Der kalte Kuss des Todes
erfahren, was sie, Katja, niemals zu hören bekäme. Und zweitens . . . zweitens wollte sie nicht mit Dmitri allein im Auto sein.
Dmitri meldete sich pünktlich um drei Uhr. Er war bereits im Präsidium und rief aus dem Büro für Passierscheine an.
»Katja, ich bin schon hier in eurem Gebäude – mit Sergej. Kommen Sie herunter. Sie haben es sich doch nicht anders überlegt? Nein? Vielen Dank. Lisa hat von der Datscha angerufen. Sie würde Sie gern sehen. Und sie möchte, dass wir sie von dort wegbringen.«
»Warum?«, fragte Katja verblüfft. »Was hat sie denn?«
»Das möchte ich am Telefon nicht sagen.«
Auf der Fahrt schwiegen sie anfangs. Dmitri sah müde und blass aus, hielt sich aber tapfer. Seine Erregung zeigte sich nur darin, dass er hektisch und ungleichmäßig fuhr. Sergej ermahnte ihn mehrere Male sanft: »Rase nicht so.«
Das anhaltende Schweigen brach Dmitri schließlich selbst. An einer Ampel fing Katja im Innenspiegel seinen durchdringenden Blick auf.
»Ich dachte, Sie sind eine ganz normale Journalistin«, sagte er. »Erst jetzt habe ich erfahren, wo Sie tatsächlich arbeiten. Sergej hat mir heute den Weg zu Ihrer Dienststelle gewiesen. Welchen Rang bekleiden Sie denn, wenn es kein Geheimnis ist?«
»Hauptmann der Miliz«, sagte Katja.
»Und gefällt Ihnen die Arbeit?«
»Mal mehr, mal weniger. So wie es Ihnen wahrscheinlich auch mit Ihrer Arbeit geht, Dmitri. Wie es uns allen geht.«
»Tja, die Studienzeit liegt lange zurück. Das Schicksal hat uns in alle Winde zerstreut. . . Sie waren vermutlich auf Strafrecht spezialisiert, oder?«
»Staats – und Rechtsgeschichte und Römisches Recht.«
Dmitri stieß einen Pfiff aus.
»Und das ist nun also aus Ihnen geworden. Lisa hat mir erzählt, dass Sie Artikel und Bücher schreiben. Für mich hat mein Vater die Wahl des Spezialfachs getroffen, ja, mein Vater . . .« Er umklammerte das Lenkrad fester und beugte sich nach vorn. »Wissen Sie, woran ich heute schon den ganzen Tag denke, Katja? Der Tod ist eine erniedrigende Sache. Stepan predigt seinen Hohlköpfen im Survival-Camp immer, wie schön der Tod auf dem Schlachtfeld sei. Er stopft sie voll mit lauter bescheuerten romantischen Illusionen. Aber in Wirklichkeit. . . In welch obszöner Gestalt erscheint uns doch der Typ mit der Sense! Mein Großvater war ein Bild von einem Mann. Und dann – gelähmt. Er hat geweint, gejammert, Gott um den Tod angefleht. Ich konnte es nicht mehr hören, bin aus dem Zimmer geflüchtet. Und mein Vater . . .« Dmitri zog pfeifend die Luft durch die Zähne, als hätte man ihm Jod auf eine offene Wunde gegossen. »Nackt in der Badewanne. Fremden Blicken schamlos zur Schau gestellt. Ich durfte ihn nicht mal zudecken. Man hat es mir nicht erlaubt. Ihre Kollegen wollten ihn ja untersuchen . . . Noahs Sohn ist für eine solche Tat bestraft worden, aber ich. . . Und jetzt muss ich immer daran denken, wie ich selbst wohl einmal sterben werde.«
»Es ist Unsinn, darüber nachzudenken, Dmitri«, erwiderte Katja. »Sie sind jung, Sie haben noch das ganze Leben vor sich.«
»Lass uns die Plätze tauschen, Dmitri«, schlug Sergej vor. »Ich fahre ein Stück, und du kannst dich ein wenig ausruhen.«
»Mir geht’s gut.« Dmitri setzte sich bequemer auf dem Sitz zurecht, streckte die Hand aus und schaltete den Kassettenrekorder ein: »Passenger« von Iggy Pop. »Ich habe alles unter Kontrolle. Macht euch keine Sorgen. Ich bringe euch heil und gesund nach Rasdolsk. Kein Wort mehr über meine Nerven. Sonst halten Sie mich noch für einen Waschlappen, Katja, der immer nur jammert und klagt.«
»So denke ich keineswegs über Sie, Dmitri«, widersprach Katja.
Der Rest der Fahrt verlief wieder schweigend. Nur Sergej machte hin und wieder belanglose Bemerkungen über das Wetter. In Rasdolsk empfing Kolossow sie im Flur. Sergej und er begrüßten einander, als hätten sie sich vor kurzem erst gesehen. Dabei lag ihre letzte Begegnung fast ein halbes Jahr zurück.
»Wie steht’s, Sergej?«, fragte Kolossow.
»Wie immer, Nikita. Keine besonderen Veränderungen außer Unannehmlichkeiten. Mein Freund hier hat einen schlimmen Schicksalsschlag erlitten. Darf ich vorstellen – Dmitri, der Sohn von Wladimir Basarow.«
Kolossow begrüßte Basarow mit Handschlag und warf Katja einen Blick zu. Sie verstand: Er brauchte ihre Erklärungen nicht. Sie selbst aber brannte darauf, mehr zu erfahren. Und zwar unverzüglich.
»Nikita Michailowitsch, kann ich Sie einen Moment sprechen?«,
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