Der kalte Kuss des Todes
wird das klären.« Der Arzt kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Haben Sie denn ernsthafte Zweifel daran, dass es ein Unfall war?«
Kolossow machte die Badezimmertür weit auf: Jetzt waren die Kollegen aus Rasdolsk an der Reihe. Er würde sich inzwischen einen der Hausbewohner vornehmen. Aber wie sich herausstellte, waren die Familienangehörigen bereits allesamt vergeben: Mit Waleri Kirillowitsch, dem Bruder des Toten, sprach Oberst Spizyn selbst; die beiden hatten sich in ein Zimmer im ersten Stock zurückgezogen. Mit der jungen Blondine im schwarzen Rolli und in Jeans – der Braut eines der Söhne – unterhielt sich der Chef der lokalen Miliz. Der Hauptzeuge Dmitri Basarow – er hatte seinen Vater im Badezimmer gefunden – war nicht fähig, Rede und Antwort zu stehen, denn er befand sich in einem Zustand völliger seelischer Erschöpfung. Ein Arzt und eine Krankenschwester bemühten sich um ihn, maßen seinen Blutdruck und gaben ihm irgendwelche Spritzen. Selbst die Hausangestellte wurde bereits von Kolossows eifrigen Kollegen vernommen. Doch als Kolossow am dunklen Wohnzimmer vorbeiging, hörte er plötzlich unterdrücktes Schluchzen. Er blieb stehen, beugte sich ins Zimmer und knipste das Licht an.
Auf dem Boden neben dem alten Ledersofa lag auf einem Bärenfell, mit dem Gesicht nach unten, ein Junge in weißen Jeans und einem modischen orangefarbenen Pullover. Seine Schultern zuckten. Das musste der jüngste Sohn des Toten sein. In dem ganzen Tohuwabohu hatte man ihn völlig vergessen. Kolossow ging durchs Zimmer und setzte sich, mit dem Rücken ans Sofa gelehnt, auf den Fußboden. Aus dem Bärenfell flog erschrocken eine verschlafene Motte auf und begann um die Lampe zu kreisen. Neben einem Sofabein lag ein Walkman mit gesplittertem Gehäuse. Entweder hatte man ihn gegen die Wand geschmettert, oder jemand hatte mit dem Schuhabsatz darauf getreten. Kolossow nahm die Kassette heraus; es war der Soundtrack zum Film »Das Fünfte Element«.
»Dein Vater wird gleich weggebracht. Möchtest du nicht Abschied von ihm nehmen?«, fragte er leise. Die Antwort bestand aus lautem Schluchzen.
»Wo ist deine Mutter? Verreist?«
»Ge-ge-storben. . .«
Kein guter Anfang für ein Gespräch. Kolossow seufzte.
»Wie alt bist du?«
»A-achtzehn.« Der Junge drückte sein Gesicht noch fester in das staubige Bärenfell. »Sie kam bei einem Autounfall ums Leben, auf einer Bergstraße . . . auf der Rückfahrt von einer Kur in Gagry. Ich . . . ich habe bei meinem Großvater gelebt. Aber er ist auch gestorben . . .«
»Ich habe davon gehört.« Kolossow seufzte erneut. »Und gesehen. Im Fernsehen. Deinen Großvater kannte man im ganzen Land. Seine Filme habe ich schon in der Schule gesehen. Du heißt nicht zufällig Kirill, ihm zu Ehren?«
»Nein. Ich heiße Iwan.« Ein vom Weinen verquollenes Gesicht schaute Kolossow an. »Wer sind Sie?«
Zum x-ten Mal stellte Kolossow sich vor.
»Mordkommission?« Der Junge richtete sich auf und stützte sich auf den Ellbogen. »Wieso Mordkommission?«
»Das ist nun mal mein Job. Ein ziemlich beschissener Job.« Kolossow reichte dem Jungen die Kassette. »Hier, nimm. Sie ist noch heil.«
»Zum Teufel damit!« Iwan vergrub das Gesicht wieder im Fell. »Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Wem gehörte der Rasierapparat, Iwan?«, fragte Kolossow, als hätte er den letzten Satz gar nicht gehört.
»So ei. . . einen . . . Schrott an. . . anzuschleppen.« Der Junge schluchzte so heftig, dass er ins Stottern geriet.
»Wem gehörte er?«
»Keinem. Er lag einfach im Bad herum. Verfluchtes Mistding . . .«
»Und wer hat ihn gewöhnlich benutzt?«
»Dmitri. Der steht dauernd vor dem Spiegel und wienert sich die Visage.«
»Hast du den Apparat auch schon mal benutzt?«
»Ich hab meinen eigenen.«
»Was machst du eigentlich? Eine Ausbildung, eine Lehre?« Kolossow stellte seine Fragen, als spielte er Dart: einen Pfeil hierhin, einen Pfeil dorthin. Der Junge schien sich zu beruhigen; das hysterische Schluchzen hatte vorerst aufgehört. Das musste man nutzen.
»Wir haben ein Tonstudio . . . für Musikaufnahmen. Ich bin der Imagemaker.«
»Aha. Und wessen Image machst du?«
»Das von unserer Gruppe, »Amnesie des Herzens ‹ . Haben Sie die mal gehört?« Wieder stützte er sich auf. Eine Locke seiner dunklen, mit Gel gestylten Haare fiel ihm in die Stirn, und er strich sie mit einer fließenden, eleganten Geste zurück.
»Dein Vater ist tot, Iwan. Der Grund ist vermutlich das defekte
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