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Der kalte Kuss des Todes

Der kalte Kuss des Todes

Titel: Der kalte Kuss des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanowa
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fantastische Ideen. Sergej hatte dieser Frage eine, wie Katja fand, höchst prosaische Deutung gegeben. Doch der Werwolf war nicht nur ein mystisch-erotisches Symbol für den Supermann, wie man es aus dem Kino kannte, sondern ebenso eine Legende, ein schreckliches Märchen, ein Aberglaube, ein Mythos. Und über Schauermärchen konnte man mit dem neunmalklugen Sergej nicht reden. Dafür eignete sich eine Wahrsagerin viel, viel besser.
    Am Freitag wollte Katja für den ganzen Tag nach Rasdolsk fahren. Am Abend zuvor suchte sie die Vermisstenabteilung auf und besorgte sich dort ein Foto von Jakowenko. Dann schaute sie in der Mordkommission vorbei, wo ihre alten Bekannten saßen. Der gutmütige Woronow gab ihr auf ihre Bitte hin Fotos von Sladkich und Grant. Diese Aufnahmen nahm Katja mit, um einen Ausgangspunkt für das Gespräch mit der Zigeunerin zu haben. Hätte sie gewusst, was ihr in Rasdolsk passieren würde – sie hätte es sich hundertmal überlegt, bevor sie zu den Zigeunern gefahren wäre!
    Nachdem sie eine Weile kritisch den Fahrplan studiert hatte, beschloss sie, den Frühzug um acht Uhr zu nehmen. Die Vorortbahn fuhr im Schneckentempo und hielt an jeder Station. Die warme Sonne machte Katja schläfrig. Draußen waren Felder, Felder, nichts als Felder. Im Zug war ein buntes Völkchen versammelt: ein Betrunkener, der schnarchend auf der benachbarten Bank schlief; Hobbygärtner mit Körben voller Setzlinge, die mit ihren Rucksackbuckeln wie Kamele aussahen; eine finstere Gestalt mit Schirmmütze, in der Hand das rechtsradikale Blättchen »Limonka« und auf dem schwarzen, seit Ewigkeiten nicht gewaschenen T-Shirt die Aufschrift »Der Nationalbolschewismus wird siegen!«; fliegende Händler, die eifrig für Sekundenkleber, Hühneraugenpflaster und die gesammelten Werke von Raffaelo Sabatini warben; kurz: eine typische Vorortbahn.
    Als sie in Rasdolsk eintrafen, war es fast schon Mittag. Die erste Straßenhändlerin wich entsetzt vor Katja zurück, als sie die Frage vernahm, mit welchem Bus man am besten zur Zigeunersiedlung komme. Schließlich gab ihr ein schüchterner, kultiviert aussehender alter Mann den Rat, mit der Linie »K« bis zur chemischen Reinigung zu fahren und von dort zu Fuß am Stadion und am Baugelände vorbei immer geradeaus zu gehen.
    Kaum hatte sie das Gelände der Zigeunersiedlung betreten und auf der Anhöhe das bekannte Haus aus rotem Backstein hinter dem riesigen Zaun erblickt, als sie auch schon Lärm, Geschrei, Gepolter, Geklirr und Geknirsche vernahm. Die Bautätigkeit in der Siedlung war noch in vollem Gange. Kipper rumpelten, ein Bagger brummte, dröhnend wurden Pfähle eingeschlagen, Bretter wurden gesägt und gehobelt. Arbeiter liefen geschäftig umher, beaufsichtigt von braunhaarigen schnurrbärtigen Männern, die trotz der Gluthitze Lederjacken trugen.
    Katja pochte laut an die Pforte. Sofort wurde ihr geöffnet, als hätte man sie auf der anderen Seite bereits erwartet. Eine junge Zigeunerin in einem schlichten Kleid aus Kattun mit kurzen Ärmeln stand vor ihr.
    »Guten Tag, ich möchte gern Madame Leila sprechen«, sagte Katja liebenswürdig.
    »Haben Sie sich telefonisch angemeldet? Um wie viel Uhr ist Ihr Termin?«
    Katja biss sich auf die Lippe. Zu dumm. Offenbar ging es hier zu wie beim Zahnarzt – Termine nur nach Vereinbarung.
    »Ich bin nicht angemeldet, aber ich muss . . .«
    »Ach, mein Herzblatt, mein Goldkind, alle, alle müssen. Rufen Sie an, man wird Ihnen einen Termin geben, und dann kommen Sie ein andermal.« Scheppernd schlug die Pforte zu.
    Wie hatte Madame Leila doch gesagt: Kommen Sie, kommen Sie, egal, zu welcher Zeit. . .
    Aus einem Fenster im ersten Stock blickte jemand heraus. Ein Mann. Er schimpfte so laut, dass es über den ganzen Hof zu hören war. Hinter der Mauer krähte aufgeregt ein Hahn. Hühner gackerten. Wieder öffnete sich die Pforte ein kleines Stück. Nun erschien außer dem Mädchen auch noch ein junger Bursche, brünett, mager, mit einer dicken Hornbrille. An seiner Haltung war irgendetwas, woran Katja sofort den Invaliden erkannte. Als der Mann sich umdrehte, sah sie, dass er einen Buckel hatte. Er war sehr jung, noch ein halbes Kind. Braune Haut, schwarze Augen, wulstige Lippen. Er lächelte schüchtern. Männliche Zigeuner hatte Katja bisher nur im Fernsehen in Folklore-Ensembles gesehen. Von weitem ähnelten sie in ihren Seidenhemden exotischen Zaubervögeln. Einen Zigeuner mit Brille sah sie zum ersten Mal – ein sehr

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