Der kalte Kuss des Todes
merkwürdiger Anblick.
»Entschuldige, Liebste, entschuldige großmütigst, wir haben dich nicht erkannt«, sprudelte das Mädchen hastig hervor. »Komm herein, erhol dich von der Reise. Das hier ist Georgi, der Sohn meiner Tante, und Nikola wird auch gleich da sein. Tritt ein, tritt ein, genier dich nicht. Tante Leila wird sofort kommen. Sie hat sich für ein Stündchen hingelegt. Ihr Herz, meine Liebe, ihr Herz . . . Der Arzt sagt, sie müsse ins Krankenhaus.« Die Frau redete Russisch mit südlichem Akzent, so wie man es in Odessa sprach – mit weichen Gaumenlauten, aber schnell und deutlich. Wenn sie lächelte, blitzten weiße Zähne auf.
Der bucklige bebrillte Junge räusperte sich verlegen und bat Katja ebenfalls ins Haus. Er reichte ihr gerade bis zur Schulter.
Im Innern des Hauses wurde Katja von der kühlen Dämmerung einer großen Diele und einem Berg von Schuhen empfangen, der sich in der Ecke neben der Tür unordentlich auf dem nagelneuen Teppichboden türmte. So viele verschiedene Schuhe auf einmal hatte Katja sonst nur im Geschäft gesehen: Kindersandaletten, Turnschuhe, Damenpumps, Gummigaloschen, Strandsandaletten, teure Designerschuhe mit dicken Absätzen, Badeschlappen aus Gummi. Offensichtlich ging man hier im Haus ohne Schuhe wie im Orient. Bestimmt hatten sie hier kostbare Teppiche. Der Junge mit der Brille zog seine Turnschuhe aus. Auch Katja streifte ihre Pumps ab.
»Bitte hier lang.« Katja wurde nach rechts durch einen Flur geführt. Eine Tür aus finnischem Eichenholz öffnete sich. Das Zimmer dahinter wurde von einem riesigen Tisch ausgefüllt, groß wie ein Fußballfeld und bedeckt von einem gemusterten indischen Tischtuch. An der Zimmerdecke hingen mehrere Käfige mit Kanarienvögeln. Auf den Fensterbrettern wucherten üppig Zimmerpflanzen. Zwischen den Fenstern hing ein großes Kruzifix an der Wand. Aus dem ersten Stock war Lärm zu vernehmen; dann kam eine Horde Kinder die Treppe heruntergestürmt – lauter kleine Mädchen in Kattunkleidern und mit Zöpfchen wie aus gebogenem schwarzem Stacheldraht. Katjas Begleiterin fuhr sie scharf an, und sie verstummten für einen Augenblick, fingen aber gleich darauf wieder an zu schnattern und rannten zum Spielen nach draußen.
Katja wusste selbst nicht, warum, aber dieses gerade erst fertig gestellte, nach harzigem Holz riechende, mit Kindern, Schuhen, Kanarienvögeln und Kakteen voll gestopfte Haus gefiel ihr sehr. Sie lächelte dem buckligen Jungen zu und sagte: »Wie schön ihr es habt! Entschuldige, aber diese kleinen Mädchen – sind sie mit Madame Leila verwandt?«
»Ja, das sind Nichten, Enkelinnen und so weiter.« Der Junge schob ihr einen Stuhl hin. »Setz dich. Und sag nicht Madame zu ihr. Einfach nur Leila, das reicht. Ich habe dich gesehen, als ihr meinen Sohn gebracht habt. Sein Bein ist wieder geheilt. Die Bänder waren gerissen, aber jetzt läuft er schon wieder herum wie zuvor.«
»Dein Sohn?« Katja starrte den Jungen erstaunt an. »Das war dein Sohn? Aber du . . . du bist doch selbst noch so jung! Da hast du schon einen so großen Jungen?«
Der Zigeuner lächelte nur traurig.
Man servierte Katja auf dem indischen Tischtuch zwei Kännchen, eins mit grünem, eins mit gewöhnlichem Tee, dazu mehrere Schälchen mit Konfitüre und Honig, getrocknete Kisil-Beeren und Backpflaumen auf einem Teller, Nüsse, Zitronenscheiben und Kiwi in einer Plastikschüssel. Dann erschien Madame Leila persönlich, angetan mit einem weiten geblümten Gewand ohne Ärmel. In ihren Ohren funkelten winzige Brillantstecker, und um den Kopf hatte sie ein Seidentuch gebunden, das ein Stück abstand – offensichtlich hatte sie darunter Lockenwickler versteckt.
Katja hatte sich die Begegnung mit der weit über Moskau hinaus berühmten Wahrsagerin ganz anders vorgestellt: geheimnisvolles Halbdunkel, zugezogene Vorhänge, grünes Tischtuch, Karten, flackernde Kerzen, Kristallkugel. Aber hier gab es kein Lager, keine rauchenden Feuer und keine Gitarrenklänge, Stattdessen Tee mit Konfitüre, zwitschernde Kanarienvögel und eine Hellseherin mit Lockenwicklern . . .
»Sei gegrüßt, mein liebes Mädchen.« Leila rauschte heran wie eine Fregatte unter vollen Segeln. »Mein Traum ist in Erfüllung gegangen. Ich wusste, dass du mich besuchen wirst.«
Natürlich, wie sonst, dachte Katja. Plötzlich kam ihr ein alarmierender Gedanke: Die Wahrsagerin weissagt bestimmt nicht kostenlos! Sie hat ja, wie man sieht, einen so großen Kundenkreis, dass man sich
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