Der kalte Kuss des Todes
Moshaisk den Auftrag bekommen haben, den Hai zu erledigen. Und diesem vertrottelten Aufseher kannst du Folgendes sagen: Die Mörder vom Hai muss man unter den Gefangenen suchen, die für den Transport bestimmt sind! Heute ist Mittwoch, der Transport ist für Donnerstag angesetzt, also für morgen. Wenn es keine ausreichenden Beweise gibt – und die wird in dieser kurzen Zeitspanne niemand dem Gericht vorlegen können – , werden alle rechtskräftig Verurteilten aus dieser Zelle ins Lager transportiert. Und sind sie erst mal im Lager, können wir die Sache vergessen.«
Kolossow holte beim Gefängnisdirektor Erkundigungen ein. Es erwies sich, dass mehr als zwei Drittel der Gefangenen aus Zelle sechzehn für den Abtransport vorgesehen waren – siebenundvierzig Mann.
Das Untersuchungsgefängnis summte wie ein Bienenstock. Die Nachricht von dem Mord verbreitete sich in Windeseile im ganzen Block.
»Jetzt können wir noch so viel im Dreck stochern, wir werden die Sache nicht mehr klären«, prophezeite Chalilow düster, während er aus dem vergitterten Fenster das Tor des Klosters betrachtete, wo zwischen dem Stacheldraht noch Stuckreste des kaiserlichen Monogramms – »E« für Elisabeth – zu sehen waren. »Und da sagst du, wir halten uns streng ans Gesetz! Wo hast du hier ein Gesetz? Ein stinkender Sumpf ist das hier, eine trübe Knastbrühe. Man sollte sich ein Maschinengewehr schnappen und voll draufhalten!«
Renat schwieg eine Weile, dann fuhr er dumpf fort; »Wenn es wirklich Brillanten-Goscha war, der mit dem Hai abgerechnet hat, und davon bin ich überzeugt, habe ich diesen Unglückswurm auf dem Gewissen, Nikita. Ich bin schuld an seinem Tod. Ich habe nicht ausreichend berücksichtigt, dass Michailow ein gerissener, rachsüchtiger Mensch ist. Der lässt sich von keinem ungestraft anbrüllen und einschüchtern, noch dazu mit vorgehaltener Knarre. So was zahlt er dem Betreffenden gnadenlos heim. Aber niemals eigenhändig, sondern immer durch Mittelsmänner.«
19 Zigeunerglück
Das Treffen war im Grunde völlig unsinnig, und das wusste Katja nur zu gut. Mehr noch – wenn jemand ihr früher, als sie noch als Untersuchungsführerin arbeitete, gesagt hätte, dass einer ihrer Kollegen zu einer Wahrsagerin gegangen sei, um Informationen zu bekommen, hätte sie über einen so naiven Tropf nur gelacht. Oder sich an die Stirn getippt. Die Idee, bei Gelegenheit zu Madame Leila zu gehen, war Katja gleich nach dem Zwischenfall auf der Fahrt nach Uwarowka gekommen, als Sergej und sie den Enkel der Zigeunerin vor den Hunden gerettet hatten. Zunächst dachte sie dabei nicht an ein Beratungsgespräch, sondern eher an ein Interview – für die Rubrik »Offensichtliches und Unerhörtes«.
Katja glaubte Wahrsagerinnen nicht. Magiern und Medien ging sie möglichst aus dem Weg. Für Leute, die Anzeigen in die Zeitung setzten – »Beschwörungen und Hexenrituale, Erfolg garantiert!« – , hatte sie nur Mitleid übrig. Von Zeit zu Zeit rief ein solcher Magier im Pressezentrum des Polizeipräsidiums an und schlug vor, zwecks Eigenwerbung ein Treffen mit dem operativen Mitarbeiterstab der Kriminalabteilung für ihn zu organisieren, bei dem er seine ungewöhnlichen übersinnlichen Fähigkeiten demonstrieren könne, zum Beispiel: »Spüre Diebesgut auf, auch gestohlene Autos«, »Sage das Schicksal jedes Menschen voraus«, »Nenne den Aufenthaltsort Vermisster« und so fort. Ein paar Mal hatten solche Treffen tatsächlich stattgefunden, aber bei genauerem Hinsehen hatte sich all die spitzfindige detektivische Zauberei als Bluff erwiesen.
Im Grunde wusste Katja selbst nicht genau, warum sie zu der Wahrsagerin wollte. Der Gedanke, dass die Offenbarungen Madame Leilas bei den Ermittlungen weiterhelfen könnten, war lächerlich. Vom journalistischen Standpunkt aus machte der Besuch allerdings Sinn. Wenn man in einem zukünftigen Artikel über die Aufdeckung des »Albtraums von Rasdolsk« elegant darauf anspielen konnte, dass eine berühmte Hellseherin aus einem seit Generationen bekannten Geschlecht von Wahrsagern den Ermittlern geholfen hatte, würde ein so pikantes Detail der Reportage ein ganz besonderes Kolorit geben.
Doch journalistischer Ehrgeiz war nicht der Hauptgrund, weshalb Katja Madame Leila besuchte. Sie wollte mit der Zigeunerin ein Thema erörtern, das sie vergeblich mit Sergej zu besprechen versucht hatte – das Thema der Lykanthropie, des Werwolfs, des Tiermenschen. Immer öfter kamen ihr in dieser Hinsicht
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