Der kalte Kuss des Todes
er sie gerufen hat. Lisa konnte einfach nicht Nein zu ihm sagen, das hat sie selbst zugegeben.«
»Das ist ja alles gut und schön, Katja, aber was ist mit seinem Bruder? Was sagt der dazu?«
»Dmitri ist völlig außer Fassung. . . so viel Leid in seiner Familie. Nein, von Dmitri können wir keine Hilfe erwarten, wenn es um den Kopf seines Bruders geht.«
»Die beiden Bären – das hat uns noch gefehlt. . .«
»Was?« Katja fuhr zusammen.
»Iwan nennt sie so, ihr jüngerer Bruder.«
In Rasdolsk schloss Kolossow sich erst einmal für längere Zeit mit dem Chef des Reviers in dessen Büro ein. Sie hatten eine schwierige Aufgabe zu lösen. Es gab keine Vermisstenanzeige. Es gab keine Gewissheit, dass man nicht nach einer Vermissten, sondern nach einem Mordopfer suchen musste. Es gab nicht einmal den kleinsten Hinweis – abgesehen von Katjas verworrenen Schlussfolgerungen – , wo die Leiche sich befinden mochte, falls Lisa Ginerosowa tatsächlich ermordet worden war. Hinzu kamen die ewigen organisatorischen Probleme der Miliz bei Suchaktionen: zu wenig Autos, zu wenig Sprit, zu wenig Personal, um die Gegend zu durchkämmen. Und die Leute, die zur Verfügung standen, waren erschöpft, weil sie schon die zweite Woche wegen der unaufgeklärten Morde praktisch kaserniert waren.
Aber Katja erkannte wieder einmal, dass man Kolossow nicht umsonst zum Leiter der Mordkommission ernannt hatte. Der Mann hatte einen eisernen Willen. Jeder Stabschef hätte ihn um seine Fähigkeit beneidet, eine Operation zu organisieren, den hartnäckigen Widerstand unzufriedener Gegner zu brechen, sich Leute gefügig zu machen und sie dazu zu bringen, die ihnen gestellten Aufgaben auszuführen.
»Der Fall unterliegt der Kontrolle des Ministeriums«, erklärte er Spizyn, der inzwischen kaum noch Einwände hatte und bereit war, Kolossow die Organisation einer groß angelegten Suchaktion in dem gesamten Waldgebiet im Quadrat Otradnoje – Uwarowka – Polowzewo – Rasdolsk zu überlassen. »Wir haben jetzt eine gute Chance, den Mörder zu finden. Diese Aktion wird nur der Anfang sein, das sage ich gleich zur Warnung.«
Die Suche begann um halb fünf am Nachmittag und dauerte am ersten Tag bis Sonnenuntergang. Am Tag darauf wurde die Aktion ab acht Uhr morgens fortgesetzt. Die Suchtrupps bestanden aus Mitarbeitern sämtlicher Dienststellen der Rasdolsker Miliz, aus der lokalen OMON-Spezialeinheit, aus Inspektoren, Ermittlern und Mitarbeitern der Verkehrspolizei. Von einer Hundefarm wurden Schäferhunde gebracht. Die Operation bekam immer mehr Ähnlichkeit mit einer Treibjagd auf ein gefährliches Raubtier, das sich im Dickicht versteckt hielt.
Trotz aller Befürchtungen, die sie Kolossow gegenüber geäußert hatte, hoffte Katja im Grunde ihres Herzens auf ein Wunder – dass alles sich plötzlich als böser Traum erwies und Lisa irgendwo lebend und unverletzt auftauchte. Wenn sie tot war, würde Katja sich mitschuldig fühlen: Sie hätte Lisa sofort von den Morden erzählen und ihr ihren Verdacht mitteilen müssen. Sie hätte auch Kolossow sofort alles erzählen müssen.
Um vier Uhr nachmittags berichtete man Kolossow nach stundenlanger ergebnisloser Suche über Funk, dass in den Ruinen einer ehemaligen Schweinefarm nahe Mebelny ein skelettierter Tierkadaver gefunden worden sei, höchstwahrscheinlich die Überreste eines großen Hundes. Eine halbe Stunde später kam eine neue Nachricht: Kolossow möge unverzüglich zur Abzweigung eines Waldwegs an der Chaussee kommen, am Kilometerstein 18. Zehn Meter von der Straße entfernt hätten die Schäferhunde etwas entdeckt. Katja, die dem Chef der Mordkommission den ganzen Tag nicht von den Fersen gewichen war, begleitete ihn schweren Herzens auch jetzt. Sie wusste, Kolossow nahm sie nur aus einem Grunde mit – sie sollte, falls erforderlich, Lisa Ginerosowa identifizieren.
»Eine Leiche! Es sieht so aus, als seien wir fündig geworden!«, rief ihnen der Leiter des Suchtrupps, der diesen Waldabschnitt durchkämmte, entgegen, kaum dass sie aus dem Wagen gestiegen waren. »Hier gibt es noch Schützengräben aus dem Krieg. Die Befestigungslinie verlief durch diesen Wald. Im Frühjahr, als die Schneeschmelze einsetzte, wurden die Gräben überschwemmt. Das Wasser ist bis jetzt nicht vollständig abgelaufen. Aber dort haben wir etwas gefunden. Wir sind gerade dabei, es zu bergen.«
Sollte Lisa, die schöne, kluge Lisa Ginerosowa, wirklich hier den Tod gefunden haben? In diesem halb eingestürzten
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