Der kalte Kuss des Todes
Schützengraben, in dem bis zum Rand braunes, lehmiges Wasser stand?
»Katja, komm her!«, rief Kolossow.
Sie ging zu ihm, erst langsam, dann schneller. Auf dem im Gras ausgebreiteten Segeltuch lag ein grausiger, aufgedunsener, halb verwester Körper. Katja, die ihren Augen noch nicht recht traute, sah Turnschuhe ohne Schnürsenkel an den Füßen des Toten. Es war ein Mann. Ihn zu erkennen, war praktisch unmöglich. Aus dem Gesicht war eine schwarze Masse geworden: verklebtes fauliges Laub, Lehm, Insektenlarven. . . Kolossow bückte sich. An den Händen hatte er bereits seine vertrauten Gummihandschuhe. Dann machte er sich daran, den schaurigen Kopf und den Hals zu betasten.
»Na?«, fragte Spizyn heiser.
»Wie gehabt. Genickbruch.« Kolossow hob vorsichtig den vor Nässe triefenden Schoß der schwarzen Kunstpelzjacke an, die der Tote trug. Darunter kam ein zerfetztes Matrosenhemd zum Vorschein. »Das ist Tichon Soljony. Ich erinnere mich an die Personenbeschreibung: Turnschuhe ohne Schnürsenkel, Webpelzjacke.«
Die Suche wurde bis Sonnenuntergang fortgesetzt, doch mehr wurde nicht gefunden. Kolossow fuhr mit einer Ermittlergruppe nach Otradnoje. Dort empfing sie Grabesstille. Das Camp war leer – kein Basarow, keine Schüler. An der Tür zum Wohngebäude hing ein japanisches Sensorschloss.
Um halb zehn Uhr abends befahl Spizyn, die Suchaktion abzubrechen. Nachdem man die Leiche des vermissten Alkoholikers entdeckt hatte, tat er alles, was Kolossow wollte.
»Holen wir uns morgen vom Staatsanwalt den Durchsuchungsbefehl für das Survival-Camp?«, fragte er. »Vielleicht finden wir dort Indizien oder Blutspuren? Die Leiche des Mädchens ist ja nicht aufgetaucht. . . Sollen wir nicht gleichzeitig auch schon die Datscha in Uwarowka unter die Lupe nehmen?«
Kolossow schüttelte ablehnend den Kopf.
»Also keine Durchsuchung?«, fragte Spizyn verdutzt. »Was schlägst du dann vor, Nikita Michailowitsch?«
»Ich?« Kolossow schaute auf den Wald, der im leichten Nebel der sommerlichen Abenddämmerung versank. »Ich schlage vor, dass wir warten.«
»Auf was?«
»Nicht auf was, sondern auf wen. Auf den, den wir jetzt am Nötigsten brauchen.«
»Und du meinst, er wird hierher zurückkehren?«
Kolossow nickte.
»Aber wozu? Weshalb sollte er gerade hierher kommen?«
»Genau das werden wir dann erfahren – wenn wir Glück haben.« Kolossow seufzte müde. »Wenn wir Glück haben.«
24 Festnahme bei Mondschein
Der Juni begann mit schlechtem Wetter; am Himmel zogen sich bleigraue Wolken zusammen. Es nieselte ununterbrochen. Nach der stickigen Hitze im Mai war das besonders unangenehm: ein trüber Sommer – was kann bedrückender sein?
Der Mittwoch und Donnerstag der ersten Sommerwoche verliefen ruhig: In Rasdolsk geschah nichts Besonderes. Im ehemaligen Erholungsheim in Otradnoje herrschte weiterhin Friedhofsruhe. Das Leben schien dort für lange Zeit zum Stillstand gekommen zu sein.
Doch für Kolossow waren diese Tage alles andere als ruhig. Er musste zu vielen verschiedenen Stellen: zur Gebietsstaatsanwaltschaft, ins Serbski-Institut für Psychiatrie, zum Sportkomplex »Olympia«, wo das Sommertraining der Teilnehmer an den Meisterschaften im Kampfsport stattfand, und in die Leichenhalle des Krankenhauses. Er sprach mit vielen Leuten und erfuhr viel Nützliches und Neues. Aber wohin er auch kam, mit wem er sich auch traf – er kehrte regelmäßig nach Rasdolsk zurück.
Bei Kolossows Kollegen und Untergebenen festigte sich der Eindruck, dass ihr Chef einen fatalen Fehler begangen hatte, als er es rundweg ablehnte, Camp und Datscha sofort durchsuchen zu lassen. Aber wie groß war erst ihr Erstaunen, als die gesamte Einsatztruppe noch eine weitere strikte Anweisung erhielt: Stepan Basarow durfte auf keinen Fall festgenommen werden, falls er auftauchte. »Ich entscheide selbst, wann Zeit dafür ist. Für diesen Schritt bin ich persönlich verantwortlich«, schmetterte Kolossow brüsk die Einwände seiner Kollegen ab. Die Erklärung für seine abwartende Taktik war die, dass noch immer keine eindeutigen Beweise gegen Stepan Basarow Vorlagen, falls er nicht in flagranti festgenommen wurde.
Die Zigeuner bewahrten weiterhin völliges Stillschweigen über den Vorfall in der Siedlung. Man hatte sogar den Chef der Rasdolsker Kriminalmiliz zu ihnen geschickt, der den »Zigeunerbaron« Simeon Gerescu persönlich kannte und ihm auf den Zahn fühlen sollte. Doch keine einzige Beschwerde über die Basarow-Schüler wurde
Weitere Kostenlose Bücher