Der kalte Schlaf
Ihnen erwarten, dass Sie auch noch Kirsty bei sich aufnehmen, wenn Hilary den Löffel abgibt? Warum sollte das nicht Ritchie übernehmen? Stimmt, er ist ein Mann und auf den ersten Blick keine zuverlässige Pflegeperson. Aber schließlich hat er ja sonst nicht gerade furchtbar viel zu tun. Dafür haben Sie gesorgt. Sie unterstützen ihn finanziell und bestärken ihn darin, ja nicht irgendeinen Job anzunehmen, sondern darauf zu warten, dass etwas Wichtiges daherkommt, etwas, das seinem Leben Sinn geben wird. Etwa, sich um seine behinderte Schwester zu kümmern. Wenn Sie dann noch Ihre Mutter überreden können, Sie aus dem Testament zu streichen und das Haus allein Ritchie zu vermachen, umso besser. Die Lösung würde dann noch eher auf der Hand liegen: der unbeschäftigte, kinderlose Bruder, der ein großes Haus ganz für sich allein hat.
Aber leider hätte das nie funktioniert. Wenn Sie nicht so verzweifelt gewesen wären, hätten Sie das erkannt. Ritchie hätte sich nicht um Kirsty kümmern können. Er schafft es ja kaum, allein zurechtzukommen. Sie hätten sich etwas anderes einfallen lassen müssen, aber was? Eine Vollzeit-Pflegerin einzustellen kam nicht in Frage – unmöglich, denn das hätte jeder mitbekommen. Hilary hätte sich im Grabe umgedreht. Soll ich Ihnen sagen, was letztlich passiert wäre? Ein Kissen auf Kirstys Gesicht drücken, das wäre langfristig die einzige Lösung gewesen. Oder ein Unfall. Aber das wissen Sie ja wahrscheinlich selbst. Solange niemand die ergebene Schwester, Sie, im Verdacht hatte, hätte es klappen können. Niemand hätte es erfahren, Hilary jenseits des Grabes ebenso wenig wie der Rest der Welt. Niemand hat die Macht, in Ihren Kopf einzudringen und Ihre Gedanken zu lesen, nicht einmal ein Geist. Insbesondere nicht der Geist Ihrer Mutter. Alles, was die lebendige Hilary kümmert, ist die Frage, wie ihre Tochter in den Augen der Welt dasteht. Sie sieht nur das Äußere, und mehr will sie auch gar nicht wissen. Es ist ihr gleichgültig, wie Sie sich fühlen, sie versucht nicht einmal, es sich vorzustellen. Ihre Mutter sagt Ihnen, wie Sie sich fühlen sollen. Das stimmt doch, oder? Warum sollte ihr Geist, nach ihrem Tod, es anders halten?«
»Offenbar besitzt aber jemand anders die Macht, in ihren Geist einzudringen«, knurrte Jos Anwältin.
»Sie denken viel über Ihre tote Mutter nach«, fuhr Simon fort. »Obwohl sie noch gar nicht tot ist. 2003 wurde bei ihr Brustkrebs festgestellt. Er wurde rechtzeitig entdeckt. Sie wussten, die Chancen waren gut, dass Ihre Mutter wieder gesund werden würde, aber die Sache zwang sie dazu, sich einer Wahrheit zu stellen, die Sie vorher nicht hatten wahrhaben wollen. Möglicherweise stand Hilarys Tod nicht unmittelbar bevor, aber irgendwann würde sie sterben, und dann würde man von Ihnen erwarten, dass Sie Ihr Versprechen einlösen. Sie müssten sich um Kirsty kümmern, ihr ein Zuhause geben. Sie gerieten in Panik – daher Ihr angeblich so selbstloser Vorschlag, Hilary solle ihr Testament zugunsten von Ritchie ändern. Es muss ein Schock gewesen sein, als Ihre Mutter das ablehnte. Sie erklärte, das käme gar nicht in Frage, es sei ihr wichtig, all ihre Kinder gleich zu behandeln. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte, oder?«
Simon malte sich aus, wie er Jo an den Haaren packte und ihren Kopf zurückriss. Er wollte es tun, aber er konnte nicht. »Ich habe mit Hilary gesprochen«, sagte er. Jos Schultern zuckten. »Nachdem Ritchie ins Bett gegangen war, sagte Ihre Mutter Ihnen die Wahrheit. Sie konnte das Haus nicht Ritchie hinterlassen, weil Sie, Jo, den Erlös aus dem Verkauf brauchen würden, um ein größeres Haus für sich und Ihre Familie zu kaufen, ein Haus, in dem auch Platz für Kirsty sein würde. Wenn Ritchie das Haus bekäme, würden Sie sich das nicht leisten können, jedenfalls glaubte ihre Mutter das. Kirsty würde bei Ritchie leben müssen, und Hilary traute ihm nicht zu, sie anständig zu versorgen. Das hatte sie vor ihm nicht sagen wollen, weil es nach mangelndem Vertrauen geklungen hätte. Dabei weiß Ritchie nur zu gut, dass Hilary nicht viel von ihm hält. Sie sind die Verlässliche, er ist eine Enttäuschung. Der Versager.«
Jo hatte mit dem Stöhnen aufgehört und war verstummt. Sie saß da, den Kopf nach vorn gebeugt. Es sah aus, als hätte sie sich das Genick gebrochen.
»Nur kam Ihnen das gar nicht so vor, oder?«, fuhr Simon fort. »Sie kamen sich vor wie eine Versagerin. Ihr Plan war nicht
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