Der kalte Schlaf
aufgegangen. Hilary würde ihr Testament nicht ändern. Kirsty sollte immer noch zu Ihnen kommen. Was haben Sie getan, als Sie feststellen mussten, dass es nichts nützte, mitten in der Nacht wegzulaufen? Haben Sie es verdrängt? Sich gesagt, dass Hilary noch geraume Zeit nirgendwohin gehen würde, gehofft, dass Ihnen in der Zwischenzeit schon noch etwas anderes einfallen würde? Und Ihnen fiel etwas ein, stimmt’s? Als bei Pam Leberkrebs festgestellt wurde, entwickelten Sie Plan B. War Ritchie denn wirklich so hoffnungslos, dass er nicht lernen konnte, Kirstys Pflege zu übernehmen? Sicher würde Hilary sich die Sache noch einmal überlegen, wenn sie sah, dass Sie und Neil keine andere Wahl hatten, als Neils Vater Quentin bei sich aufzunehmen. Bestimmt würde sie dann sagen, doch, dein Vorschlag war gut, Ritchie soll das Haus erben und nach meinem Tod die Verantwortung für Kirsty übernehmen. Ritchie würde Kirsty pflegen müssen, denn Sie waren ja bereits bis an Ihre Grenzen belastet. Sie wollten, dass Ihre Mutter ganz offiziell Ritchie die Verantwortung übertrug, Sie brauchten das. Hilary musste anerkennen, dass Sie an Ihre Grenzen gekommen waren – sie musste Ihr Recht anerkennen , das zu sagen. Aber das hat sie nie getan, oder? Warum sollte sie auch? Was sie sah, war, dass ihre Tochter fröhlich die ganze Welt verköstigte und beherbergte. Sie nahm an, Sie könnten mit allem fertigwerden. Gestern sagte sie mir, sie hätte nie bezweifelt, dass es Ihr Wunsch war, sich um Kirsty zu kümmern. So überzeugend waren Sie. Ihre Tochter, die Heilige, die aus rein altruistischen Gründen wollte, dass ihr kleiner Bruder ein großes Haus bekam.«
Jo gab Laute von sich, die nach wenigen Sekunden nachließen. Ginny hatte sich geirrt, als sie sagte, Jo könne das nicht aufrechterhalten. »Transitive und intransitive Relationen«, sagte Simon. »Ich würde diese Beziehung transitiv nennen, obwohl William mir da vielleicht widersprechen würde. Amber profitiert von Sharons Tod. Sie bekommt Dinah und Nonie. Ihr besetztes Gästezimmer und die voll in Anspruch genommenen emotionalen Ressourcen stellen sicher, dass Jo von Pams Tod profitiert: der zweifelhafte Gewinn ist Quentin. Kein Raum mehr in der Herberge. Von Hilarys Tod hätte potentiell Ritchie profitieren können, mit Ihrem Segen: ein großes Haus und die Vollzeitpflege seiner Schwester. Sie bemerken, das ist transitiv. Wenn wir die Kette zurückverfolgen, sehen wir, dass Ritchie von Sharons Tod profitiert, und Jo ebenfalls, die von Ritchies Gewinn profitiert. Ihr Gewinn ist der Verlust einer Bürde, die Pflege der behinderten Schwester. Wenn Sharon nicht gestorben wäre, hätten vielleicht Amber und Luke Quentin aufgenommen, denn dann hätten sie nach Pams Tod noch ein freies Gästezimmer gehabt.« Simon beugte sich herunter und brachte sein Gesicht so dicht an Jo heran, wie er es ertragen konnte. »Ein Zimmer, in dem Quentin nie gelandet wäre, wie Sie am Mittwoch, den ersten Dezember, feststellen mussten. Im Gegensatz zu Ihnen meuchelt Amber nicht unschuldige Mitmenschen, anstatt die unvernünftigen Ansprüche der Mutter abzulehnen.«
Jo presste die Lippen zusammen, dann wurden sie wieder schlaff. Oder sah Simon nur, was er sehen wollte?
»Moment mal.« Die Anwältin hievte sich aus ihrem Stuhl hoch, blieb aber in der Ecke stehen. »Spielen Sie hier ein Spiel, für das ich nicht schlau genug bin, oder wollen Sie ernsthaft andeuten, das Motiv für den Mord an Sharon Lendrim sei es gewesen, das leere Gästezimmer der einzigen anderen Person zu füllen, die ihren Schwiegervater bei sich hätte aufnehmen können?«
»Es war mir nie ernster«, versicherte Simon. »Als bei Pam Utting Leberkrebs festgestellt wurde, führten Neil und sein Bruder Luke, Ambers Mann, ein Gespräch, von dem Jo erfuhr, Amber aber nicht – weil Luke zu große Angst davor hatte, wie seine Frau reagieren würde, wenn er es ihr erzählte. Die Brüder kamen überein, dass Luke den Vater bei sich aufnehmen sollte, wenn Pam starb. Luke war nicht glücklich darüber, empfand es aber als seine Pflicht. Er hatte genug Platz, Neil nicht. Und Neil hatte zwei Kinder. Luke sagte zu Neil, es würde Amber nicht freuen, aber er würde sie schon überreden können. Ich weiß nicht, ob ihm das gelungen wäre oder nicht. Sie bestreitet es. Aber Jo wusste nichts von Ambers Widerstreben. Neil hatte ihr nur gesagt, sie müsse sich keine Sorgen machen, Luke habe versprochen, sich um Quentin zu kümmern. Sie könne
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