Der kalte Schlaf
Polizei, die eine Gehirnwäsche erfahren hat und glaubt, dass Mörder bestraft gehören?«, bemerkte Charlie.
»Jo hat mir versichert, dass sie Kirsty liebt. Nichts, was ich sagte, konnte sie dazu bringen einzugestehen, dass sie sie hasst. Nicht einmal ihrem Mann gegenüber konnte sie zugeben, dass ihr der Gedanke unerträglich war, nach Hilarys Tod Kirstys Pflege zu übernehmen. Mir gegenüber gab sie allerdings offen zu, dass sie es nicht ertragen kann, Kirsty zu berühren oder auch nur in ihrer Nähe zu sein. Hilary durfte auf keinen Fall annehmen, dass es nur Kirsty war, die sie nicht berühren mochte, also erfand sie sich neu und behauptete, dass sie sich bei Berührungen generell unwohl fühlte. Sogar ihr Mann glaubt das. Sie hat ihre eigene Regel nur für ihre Kinder gebrochen, und das auch nur, wenn sie glaubte, dass niemand es sah.«
»Seltsame Art, jemandem aus dem Weg zu gehen«, sagte Charlie. »Sie hat ihre Mutter und Kirsty jeden Tag gesehen, hat sie bei sich übernachten lassen, für sie gekocht …«
»Das war ihre Tarnung«, erklärte Ginny. »Ja, Hilary und Kirsty waren ständig da, aber sie gingen im allgemeinen Betrieb unter: der alternde Schwiegervater, Kinder, Bruder, Ehemann, Schwager und Schwägerin, eine Nanny, die ein Vermögen dafür bezahlt bekam, dass sie nichts tut. Ich glaube, Sabina war Jos letzter Ausweg. Wenn alle Stricke rissen, konnte Sabina vielleicht überredet werden, nach Hilarys Tod Kirstys Pflege zu übernehmen. Zweifellos hat Jo ihr viele Jahre lang viel Geld bezahlt, ohne dass sie sonderlich viel dafür tun musste. Das muss der Grund sein, weshalb sie Sabina behalten hat.« Ginny runzelte die Stirn. »Wie Amber so scharfsinnig bemerkt hat, Sabina mag als Kindermädchen eingestellt worden sein, aber ihre Rolle in diesem Haushalt war eigentlich immer schon, sich um Jos Bedürfnisse zu kümmern, nachdem sie sie wie durch Osmose entziffert hatte – nichts wurde je offen ausgesprochen. Im Augenblick, Hilary lebt ja noch, ist Jos Hauptbedürfnis, dass Sabina Quentin bei Laune hält. Jo wird Sabina nicht gebeten haben, das zu übernehmen. Es ist ihr unmöglich, ihren eigenen Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen, das ist ja ihr Problem.«
»Das und dass sie eine gewissenlose Mörderin ist«, versetzte Charlie gereizt.
»Vorausgesetzt, Sabina hätte sich dem gegenüber aufgeschlossen gezeigt – was wir nicht wissen können, und ich persönlich halte es für eher unwahrscheinlich –, hätte Jo es sich ganz allein als Verdienst anrechnen lassen können. Es hätte so ausgesehen, als würde sie sich um die geliebte Schwester kümmern. Niemand hätte je darauf hingewiesen, dass es eigentlich Sabina war, die die ganze harte und intime körperliche Pflege leistete, oder dass Jo niemals in die Nähe ihrer Schwester ging.«
»Wie viel davon hat Jo Ihnen erzählt, und wie viel denken Sie sich aus?«, fragte Charlie. Simon hatte es so dargestellt, als wäre es eine Tatsache, dass Jo fest entschlossen war, sich nicht die Verantwortung für Kirsty aufladen zu lassen. Aber alles, was Ginny sagte, klang alarmierend nach Spekulation.
»Sie hat mir mehr als genug erzählt.«
»Kirsty jeden Tag bei sich zu Hause zu haben war also eine PR-Aktion für Jo?«
Ginny nickte. »Genau. Sie konnte sich in der Küche verstecken, hinter einem Berg von Kochutensilien, und sie wusste ja, Hilary war da, um Kirsty zu betreuen. Ihre Mutter würde es nicht ahnen. Und sie ahnte tatsächlich nichts. Niemand ahnte etwas. Alle nahmen an, Jos Haus sei immer zum Bersten voll, weil sie nichts lieber tat, als sich um alle und jeden zu kümmern. Jo sorgte dafür, dass alle, die ihr nahestanden, überzeugt davon waren, wie sehr sie an Kirsty hing. Wer sie nicht angemessen behandelte, bekam es mit Jo zu tun, der loyalen Schwester. Für diese Täuschung hat Jo ihr Heim und ihr alltägliches Leben geopfert. In ihrem Herzen betrachtete sie die Häuser, die sie vor ihrer Mutter geheim hielt und selten besuchen konnte, als ihr wahres Zuhause, die Häuser in Pulham Market und später in Surrey. Einmal machte sie eine Ausnahme und lud die ganze Familie nach Little Orchard ein, eine sehr deutliche große Geste. Sie mietete ein Luxus-Ferienhaus an, damit die ganze Familie darin Weihnachten feiern konnte. Gab es eine bessere Möglichkeit, das Haus zu besuchen, das sie liebte, in das sie aber kaum jemals einen Fuß setzen konnte? Wie hätte sie ihr Image als Familien-Göttin besser zementieren können, die alle so sehr liebt,
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