Der kalte Schlaf
nicht, Schatz. Im Augenblick weiß das noch keiner. Aber … sie wird niemandem mehr etwas antun können.«
»William und Barney tun mir leid«, meint Nonie.
»Wenn es nicht gut ausgeht, wird trotzdem alles gut sein«, sagt Dinah. »Wir sind ja trotzdem eine Familie.«
Von jetzt an werden wir eine Familie sein, in der alle einander ohne Angst die Wahrheit sagen, weil jeder weiß, dass ihm stets vergeben werden wird. Als ich das gestern Abend zu Luke sagte, lachte er und meinte: »Das ist klasse für dich und mich, aber die Mädchen werden ja größer. Sei also nicht allzu enttäuscht, wenn du in ein paar Jahren Bierdosen und tätowierte Freunde im Schrank findest.«
»Ja«, versichert er Dinah. »Wir sind eine Familie.«
Danke, dass Sie gekommen sind. Es muss Sie viel Mut gekostet haben. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie auf meinen Vorschlag eingehen oder auch nur meinen Brief beantworten – also, großartig. Es ist gut, dass Sie Mut haben, denn Sie werden viel davon brauchen, um den Jungs darüber hinwegzuhelfen – über den Verlust ihrer Mutter, hätte ich fast gesagt, aber das klingt so, als wäre Jo gestorben. Sie wissen schon, was ich meine.
Zunächst möchte ich Ihnen sagen, dass bei meinem einzigen richtigen Gespräch mit Jo, damals, als sie aus freien Stücken zu mir kam – bei der Polizei habe ich zwar versucht, mit ihr zu reden, aber da war sie nicht ansprechbar –, ganz offensichtlich war, wie sehr sie Sie, William und Barney liebt. Sie liebt Sie aufrichtig, Neil. Und ihre Kinder. Ich weiß, im Augenblick ist sie … unzugänglich – sie hat dichtgemacht, um die Tortur zu überleben, die ihr bevorsteht –, aber trotzdem glaube ich fest, dass Jo Sie immer noch liebt. William, Barney und Sie sind die Menschen in ihrem Leben, die sie auf nicht-strategische Weise lieben kann, ohne jede Berechnung, ohne Komplikationen. Auf eine Weise, in der sie Hilary, Ritchie und Kirsty eben nicht lieben kann, weil sie die in gewisser Weise für ihre Probleme verantwortlich macht.
Ich habe Sie hauptsächlich hergebeten, um über die Jungs zu sprechen und darüber, wie man ihnen die Situation erleichtern kann, aber vorher möchte ich kurz noch etwas zu Jo sagen. Geben Sie sie nicht auf, Neil. Sie hat furchtbare Dinge getan, das will ich gar nicht leugnen, aber das macht sie noch nicht zu einem furchtbaren Menschen. Jo hatte nie eine Chance, der Gehirnwäsche ihrer Mutter zu entkommen und ihr Potential zu nutzen, der Mensch zu werden, der sie hätte sein können. Mit Ihrer Hilfe und meiner – oder der irgendeines anderen guten Therapeuten – könnte ihr das immer noch gelingen. Sie durfte ihre eigenen Bedürfnisse nie empfinden oder ausdrücken, und aus diesem Grund hat sie auch getan, was sie getan hat. Ich weiß, es wird Ihnen schwerfallen, das zu verstehen, aber Jo mag juristisch eine für ihre Taten voll verantwortliche Erwachsene sein, seelisch ist sie jedoch ein verängstigtes Kind, das gegen eine Auslöschung seiner fragilen Identität ankämpft.
Falls Sie beschließen sollten, noch einmal zu mir zu kommen, können wir gern ausführlicher darüber reden, aber denken Sie mal über Folgendes nach: warum Feuer? Warum hat Jo eine Feuerwehruniform ausgeliehen und Sharon Lendrim auf diese spezielle Weise getötet? Das kann nicht der einfachste Weg gewesen sein. Ich weiß, es ist schmerzlich für Sie, daran zu denken, aber Jo hat sich das Leben durch ihre Entscheidung, Sharon Lendrim auf diese Weise anzugreifen, sehr schwer gemacht. Sie musste sich einen Hausschlüssel besorgen und nachts, während Sharon, Dinah und Nonie schliefen, das Haus betreten. Sie konnte nur hoffen, dass alle fest schlafen würden, aber sicher sein konnte sie sich da nicht, oder? Sie musste sich das Feuerwehrkostüm anziehen, die Mädchen aus dem Haus schaffen … Wer konnte wissen, ob Sharon nicht aufwachen und sie auf frischer Tat ertappen würde? Warum ist Jo ein solches Risiko eingegangen?
Ich glaube, und Simon Waterhouse stimmt mir zu, dass es ihr wichtig war, sich auf die »Retter-Rolle« konzentrieren zu können, die sie mit ihrer Verkleidung angelegt hat. Sie hat Dinah und Nonie in dieser Nacht tatsächlich gerettet, von Kopf bis Fuß in die Schutzkleidung eines Berufs gehüllt, der das Gegenteil dessen tut, was sie zu tun beabsichtigte. Symbolisch hat sie sich damit vor ihrem eigenen Verbrechen geschützt. Verstehen Sie, was ich meine? Sie hat ihren Körper in dieses Retterkostüm gehüllt, sodass die echte Jo vollständig
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