Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Unabhängigkeit proklamiert hat, sagte Margaret. Ihre Stimme monoton, die Leidenschaft fehlte, die Krankheit und die Medikamente hatten jegliche Energie gefressen, nur der Verstand funktionierte. Wie im Ustaša-Staat wurden Tausende Serben aus Staatsämtern entlassen, aus Militär, Polizei, Verwaltung, selbst einfachste Jobs mussten sie aufgeben. Straßen und Plätze wurden umbenannt, die neuen Namen erinnerten zum Teil ebenfalls an die vierziger Jahre. Aus dem »Platz der Opfer des Faschismus« wurde der »Platz der bedeutenden kroatischen Persönlichkeiten«, eine eigene Straße bekam der Ustaša-Minister Mile Budak, von dem der humorige Satz stammt, man müsse ein Drittel Serben töten, ein Drittel vertreiben und ein Drittel zwangskonvertieren …
So ging es weiter, und Kusserow nickte und lächelte und schenkte ihr Mineralwasser nach und Ehringer Weißwein und entschuldigte sich schließlich, als alter Mann sei er der Sklave seiner Blase …
Er kam nicht zurück.
Nach zwei Stunden verließen sie Marković’ Wohnung, eilten in der Eiseskälte Arm in Arm zum Auto. Margaret zog ihm den Schlüssel aus der Tasche, Ehringer war zu betrunken, um zu fahren, zu betrunken, um sich daran zu erinnern, dass sie unter Medikamenten stand, zu betrunken, um an etwas anderes zu denken als an sein Leid , wie wunderbar die Jahre mit ihr immer begonnen hatten, selbst das vergangene noch, 1991, und wie schrecklich begann dieses, Margarets Krankheit, seine bevorstehende Demission, die Angst, dass sie eine Party sprengte …
Er räusperte sich. »Meine Frau und ich waren …«
»Wir werden verfolgt«, fiel ihm Marx ins Wort.
»Wie bitte?«
Marx’ Blick lag auf dem Rückspiegel. »Sind seit Berlin an uns dran.«
»Ein grüner Wartburg?«
»Silberner Toyota.«
Ehringer drehte den Spiegel mit der linken Hand, bis er den Toyota sah. Er fuhr etwa einhundert Meter hinter ihnen, das einzige andere Auto weit und breit. »Zufall.«
Marx lachte heiser. »Die hast du mitgebracht.«
»Eher Feinde von dir aus irgendeinem Krieg, würde ich meinen.«
»Als hättest du eine Ahnung.«
Natürlich hatte Marx recht, dachte Ehringer bestürzt, Marković-Gesandte. Es reichte eben nicht, eine Wanze aus dem Telefon zu entfernen, wenn man es mit einem Gegner wie ihm zu tun hatte.
Jetzt bemerkte er, dass der Toyota schneller fuhr als sie. Der Abstand verringerte sich. »Er schließt auf.«
Auch der Granada beschleunigte leicht. »Mehr ist nicht«, sagte Marx. Er drehte den Rückspiegel zurück, löste den Sicherheitsgurt.
Fast unmittelbar hintereinander kamen ihnen zwei Fahrzeuge entgegen. Rechts wich der Wald zur Seite, ein tief gefurchter Acker begann. Jenseits davon lag ein Dorf, ein anderes vor ihnen an der Straße, in drei, vier Kilometern Entfernung.
»Halten wir dort.« Ehringer deutete nach vorn.
»Bis dahin schaffen wir’s nicht. Er ist keine dreißig Meter hinter uns.«
Jetzt hörte Ehringer den anderen Motor. Das Geräusch wurde immer lauter.
»Zwei Männer«, sagte Marx. »Halt das Lenkrad, aber duck dich.« Er hatte das Steuer mit den Knien fixiert, zog mit der Rechten die Pistole aus der Jacke, sank tiefer in den Sitz.
Hastig griff Ehringer mit der Linken nach dem Lenkrad. »Fahr langsamer! Vielleicht wollen sie nur überholen.«
Er spürte, wie der Granada an Geschwindigkeit verlor.
»Sie kommen.« Marx kurbelte das Seitenfenster herunter und hob die Pistole.
Aus dem Augenwinkel sah Ehringer den silbernen Kühler seitlich hinter ihnen, aber er fuhr im selben Tempo wie sie, kam nicht auf gleiche Höhe. Er hielt den Atem an, warf einen Blick auf Marx, der den Kopf in Richtung Außenspiegel gedreht hatte. »Und?«
»Festhalten!«
Im selben Augenblick krachte draußen ein Schuss, und Ehringer verlor die Kontrolle über den Granada. Das Heck brach aus, Marx’ Hand griff nach dem Steuer, schlingernd rasten sie von der Straße auf die Böschung zu, streiften einen Baum, flogen ein paar Meter ohne Bodenkontakt auf den Acker, und Ehringer barg den Kopf in den Armen und wunderte sich, dass sie den Baum nur gestreift hatten, er hatte doch Zeitungsfotos gesehen, sie waren frontal dagegengeprallt , der Baum hatte den über Eis schlitternden Wagen gestoppt, der Motorraum regelrecht zusammengefaltet, das Lenkrad Richtung Dach geschoben … doch der Wagen bewegte sich weiter , knallte mit einem Reifen gegen etwas Hartes, Ehringers Seite hob sich in die Luft, mit einem fürchterlichen Schlag krachten sie auf die Fahrerseite, Glas
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