Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
barst, er hörte Schreie, nicht Margaret, eine tiefe Männerstimme, und wieder flog der Wagen, langsamer jetzt, Ehringer hing kopfüber in der Luft, drohte einen Moment lang aus dem Gurt zu rutschen, eines seiner Knie traf ihn im Gesicht.
Dann schlug der Granada auf dem Dach auf und blieb liegen, die Räder rollten aus, der Motor erstarb.
Ehringer rührte sich nicht. Der Gurt hielt ihn, der Kopf berührte die Dachinnenseite. Er hatte die Augen geschlossen, sah einen rötlichen Nebel, Kopf und Arme schmerzten, er spürte Blut auf der Wange, sah plötzlich überall Blut, Margarets Kopf am Lenkrad, ans Dach gedrückt, Blut lief in einem schmalen Rinnsal seitlich über ihren hellen Hals, den Kragen der weißen Bluse, ganz langsam, lief ihre rechte Seite hinab, tropfte auf den hellbraunen Lederbezug …
Er öffnete die Augen. Seitlich vor ihm hingen die leblosen Beine, ein Fuß abgeknickt, der Rumpf wohl weitgehend unverletzt.
Keuchend starrte er durch die zersplitterte Windschutzscheibe, sah dunkle Erde oben, einen Streifen Helligkeit unten.
In der Helligkeit schleppte sich ein Mann vom Auto weg. Taumelte, bückte sich wie unter Schmerzen, ging weiter.
Marx.
Erst jetzt wurde Ehringer klar, dass die Fahrertür offen stand, der Sitz war leer. Marx musste hinausgeschleudert worden sein.
Jenseits der Windschutzscheibe erschien ein zweiter Mann. Er folgte Marx. Hob eine Pistole und schoss. Marx stürzte lautlos.
Der Mann trat zu ihm, schoss erneut.
Ein dritter Mann tauchte auf. Sie gingen in Ehringers Richtung.
Stell dich tot!, dachte er.
Aber er wollte sich nicht totstellen, um zu überleben. Sterben, dachte er. Endlich sterben. Nach achtzehn langen Jahren.
Er tastete nach der Gurtschließe, öffnete sie, sackte auf die Dachinnenseite. Weil seine Tür klemmte, zog er sich auf den Fahrersitz.
Geht nicht weg, dachte er.
Er kroch ins Freie, Zentimeter um Zentimeter. Der kühle, satte Geruch von Erde, Erde an den Händen, ein Grab aus Erde.
Er lächelte.
Dann waren auch die nutzlosen Beine draußen, der ganze nutzlose Körper lag auf der gefurchten Erde.
Die Ackerwelle half ihm, sich umzudrehen.
Die Erde, der Himmel. Ein guter Ort, um endlich zu sterben.
Er wandte den Kopf zur Seite, sah den beiden Männern entgegen.
Dann standen sie über ihm und blickten herab, Unbekannte, so musste es sein, dachte er, die Abgesandten des Todes sollten Unbekannte sein. Einer eindeutig ein Südslawe, der andere vielleicht auch. Marković-Unbekannte.
Sie töteten ihn nicht.
Sie gingen um ihn herum und entfernten sich. Ehringer folgte ihnen mit dem Blick, versuchte, sie zurückzurufen …
Seine Stimme versagte.
Ein letzter Gruß von Ivica Marković.
Er ließ den Kopf sinken.
Die Erde, der Himmel. Das Leben.
50
FREITAG, 15. OKTOBER 2010
ZAGREB/KROATIEN
»Lass uns verschwinden«, sagte Goran Vori.
Nichts lieber als das, dachte Ahrens.
»Noch nicht«, sagte sie.
Sie wollte mit Jagoda Mayr sprechen, die sich seit Ewigkeiten mit dem Minister unterhielt, mit Irena Lakić, die bislang nicht eingetroffen war.
Seit einer Stunde schlenderten sie durch die Gänge des Innenministeriums, immer bemüht, Ivica Marković nicht in die Arme zu laufen, der ihnen einmal aus der Ferne zugewunken hatte. Vori flüsterte ihr Namen und Relevanz der Schauspieler, Intendanten, Regisseure, Schriftsteller, Maler, Sänger ins Ohr, an denen sie vorbeikamen. Die Namen klangen wunderbar, die Relevanz hielt sich in Grenzen. Vori mochte Künstler nicht.
»Nur die kroatischen oder alle?«
»Alle.«
Sie lachte amüsiert. »Warum?«
»Künstler etablieren Phantasiewelten ohne Relevanz. Was sie zu erzählen haben, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun.«
»Unsinn, Goran.«
Er schmunzelte. »Sie lenken von der Wirklichkeit ab.«
»Und was ist die Wirklichkeit?«
»Milan Levar, Anna Politkowskaja, Vukovar, die Lügen der Amerikaner und der Briten vor dem Einmarsch im Irak, Tibet.« Er senkte die Stimme, deutete mit der Hand. »Marina Asanović, Schauspielerin, hat es in eine Hollywood-Nebenrolle geschafft, ihre Jugendsünden findest du auf Porno-Websites.«
»Das ist gemein.«
»Ich weiß.«
Lächelnd blieben sie stehen.
»Vukovar?«, fragte Ahrens.
»Der Tuđman-Genscher-Deal. Du weißt, was in Vukovar passiert ist?«
»Ja.«
Die JVA und serbische Milizionäre hatten Vukovar seit August 1991 belagert und täglich mit Hunderten Granaten beschossen. Knapp zweitausend kroatische Polizisten und Freiwillige verteidigten die Stadt. Nach
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