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Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Titel: Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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dem weißen Teppich …
    Plötzlich waren in der Diele Schritte zu hören.
    »Ich komm rein!« Wilberts Stimme, dann ein lautes Klopfen an der Badezimmertür.
    »Noch nicht!«, rief Ehringer.
    »Die halbe Stunde ist rum.«
    »Komm in fünfzehn Minuten wieder.«
    »Bis dahin sind Sie verschrumpelt.«
    Die Tür ging auf, Ehringer legte die Hände auf seinen Penis und brüllte: »Raus!«
    Die Tür krachte zu.
    »Fünfzehn Minuten, verstanden?«
    Wilberts Schritte entfernten sich. »Fünfzehn Minuten, verstanden?«, wiederholte er mit verstellter, hoher Stimme. »Ja, Mann, verstanden, fünfzehn Minuten, und ich bin schuld, wenn Sie verschrumpeln, mir doch egal.«
    Rrrums, die Wohnungstür.
    Ehringer lächelte. Wilbert, der erste Zivildienstleistende, mit dem ihn eine Art Freundschaft verband. Sie war bizarr und ein bisschen rau, aber sie existierte. Zwei Monate blieben ihr noch vergönnt, dann würde der Dienst enden, Wilbert die Welt umrunden, ein Nachfolger Ehringer in die Badewanne heben.
    Doch bei aller Liebe: Ein erigierter Penis war Privatsache.
    Er begann zu masturbieren. Die Erektionen waren dauerhafter, seit er querschnittsgelähmt war, die Ejakulationen kamen spät. Der einzige Vorteil der Spastik, wenn man so wollte. Aber was er fühlte, geschah im Kopf, am Penis spürte er nichts.
    Als Wilbert das Bad eine Viertelstunde später betrat, hatte Richard Ehringer den Stöpsel gezogen und duschte in der leeren Wanne Seifenreste von dem kaputten, bleichen alten Körper.
    Es gab weitere Abendrituale.
    Um zwanzig Uhr die Tagesschau . Anschließend, je nach Wochentag, eine Reportage, ein politisches Magazin oder Fußball. Um 21.45 Uhr das heute-journal , um 22.15 Uhr – falls sie denn kamen – die Tagesthemen .
    Um 22.45 Uhr ins Bett. Lesen bis höchstens 23.30 Uhr.
    Die Bücher: Biographien und Autobiographien von Politikern. Alles über Andalusien.
    Alles über Kraniche.
    Wilbert legte ihm hin und wieder Romane auf den Sekretär. Abgefahren, müssen Sie lesen! Romane, deren Seiten zerfleddert, eingerissen, verschmutzt waren, als hätten sie in den Tiefen eines Rucksacks halb Europa durchquert. Max Frisch, Jack Kerouac, Henry Miller, was man als Neunzehnjähriger eben las, 1963 wie – und das mochte ein Grund für die Freundschaft sein – offenbar auch 2010.
    Kennen Sie?
    Natürlich.
    Der Wahnsinn, was?
    Allerdings.
    Heute war Fußballabend, doch Ehringer hatte den Fernseher ausgeschaltet. Er saß im Bademantel am Sekretär, über eine handgeschriebene Liste gebeugt. Eine Frage trieb ihn um.
    Auf der Liste stand:
    Petar Ćavar/Rottweil
    Milo Ćavar/Rottweil
    Jelena (?)/?
    Markus »Mägges« (Bachmann?)/?
    Lorenz
    Hinter »Lorenz« hatte er ein Häkchen gesetzt.
    Falls es Zweifel gab, dachte er, läge es nahe, den Vater oder den Bruder anzurufen. Doch was hätte er sagen sollen? Entschuldigen Sie die Störung, erinnern Sie sich an mich? Wie geht es Ihnen? Können Sie sich einen Grund vorstellen, weshalb sich kroatische Regierungskreise für Thomas interessieren – fünfzehn Jahre nach seinem Tod? Ist es vielleicht theoretisch möglich, dass er …
    Undenkbar.
    Abgesehen davon, dass er die Ćavars nicht belügen wollte. Er hatte an ihrem Tisch gesessen, ihre Speisen gegessen.
    Anders verhielt es sich bei Markus, dem Freund.
    Er hatte nachgesehen: Einen Markus Bachmann gab es nicht im Raum Rottweil. Der Vorname war richtig – das wusste er genau –, der Nachname falsch.
    Er fuhr den lahmen, lärmenden PC von Wilberts Freundin hoch, den man ihm als »Schnäppchen« verkauft hatte. Als er endlich online war, rief er das Telefonbuch auf und versuchte alle Namensvarianten, die ihm einfielen.
    Wurde fündig.
    »Der Thomas lebt nicht mehr«, sagte Markus Bachmeier. »Schon lange nicht mehr.«
    »Oh … Das wusste ich nicht.«
    »Er ist im September 1995 gestorben, in Bosnien. Im Krieg.«
    »Wie furchtbar!«
    Bachmeier schwieg, und Ehringer fragte sich, ob er ihm die Lüge und die gespielte Überraschung abkaufte.
    »Wie ist das passiert? Ich meine … Verzeihen Sie. Eine sehr voyeuristische Frage.«
    Bachmeier sagte nichts.
    »Ich habe oft an ihn gedacht in letzter Zeit, und da …« Ehringer hielt inne.
    Die Leitung wie tot. Aber er hörte Bachmeier atmen.
    Sekunden verstrichen.
    »Er hat manchmal von Ihnen gesprochen. Sie sind der Politiker im Rollstuhl.«
    Ehringer ließ sich gegen die Lehne sinken. »Ja.«
    »Er hat erzählt, was Sie für ihn getan haben. Und dass er Sie später besucht hat. Im

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