Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
nicht. Hier sind die Ausdünstungen ein Hinweis auf das Maß des Verfalls. Wer nur ein wenig riecht, pflegt sich noch. Wer stark riecht, hat aufgegeben.«
Mit sicheren Griffen drehte Marković den Rollstuhl herum und schob ihn zur Wohnungstür. Im langen, stillen Flur des vierten Stocks sagte er: »Sie riechen überhaupt nicht.«
»Wie charmant Sie lügen.«
Im Aufzug trafen sich ihre Blicke. Beide lächelten. Ehringer begriff, dass Marković sich keine Blöße geben würde. Auch wenn er einen Invaliden vor sich hatte, würde er ihn niemals unterschätzen.
Sie saßen an einem kleinen Fenstertisch, blickten über die Spree auf den Schlosspark. Marković hatte sich als vorbildlicher Pflegeheimbesucher erwiesen. Gelassen grüßte er die Verfallenden, wechselte ein paar Worte mit Ehringers wenigen Bekannten. Als eine russische Oligarchenmutter beherzt furzte, ließ er sich nichts anmerken.
Er bestellte das Cordon bleu, Ehringer das Steak.
Während sie aßen, erzählte Marković von seiner Frau. Ehringer erzählte von Margaret.
Freunde unter sich.
Schon vor zwanzig Jahren hatte Ehringer gespürt, dass Marković ihn mochte. Er hatte nie verstanden, weshalb. Er hatte Genscher und das Auswärtige Amt repräsentiert, die bis in den August 1991 hinein den Wunsch der Kroaten nach Anerkennung der Unabhängigkeit nicht unterstützt hatten.
Schließlich sagte Marković: »Alles, worum ich Sie bitte, ist, sich mit Thomas Ćavars Vater in Verbindung zu setzen.«
»Was sollte er mir anderes mitteilen, als ich schon weiß?«
»Die Familie steht in Ihrer Schuld. Man würde Sie nicht belügen, wenn Sie …«
»Belügen? Herrgott, wovon sprechen Sie?«
Ganz abgesehen davon, dachte Ehringer, dass man ihn dann schon belogen hätte. Denn Anfang 1996 hatte er in Rottweil angerufen, um zu hören, wie es Thomas ging. Ob er und Jelena endlich geheiratet, weshalb sie ihn so lange nicht besucht hatten. Der Vater war drangegangen, hatte wortkarg vom Tod seines Sohnes berichtet.
In fünfzehn Jahren hatte Ehringer nicht einen Moment lang daran gezweifelt, dass dies der Wahrheit entsprach.
Und jetzt?
Ohne gewichtige Gründe trat ein Mann wie Ivica Marković nicht aus der Deckung. Ließ keine Wanzen platzieren, schickte keine Leute nach Rottweil, flog nicht selbst nach Berlin, um sich mit durchschaubaren Lügen zu diskreditieren.
Die These des Neffen hatte Ehringer verworfen – dass der Junge damals möglicherweise ermordet worden sei und dies nun ans Licht zu kommen drohe. Vielleicht, dachte er, weil ihm das andere lieber wäre.
Dass der Junge lebte .
Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Eine Entschuldigung murmelnd, rollte er zur Toilette und verriegelte die Tür.
Die verfluchten Tränen ließen sich nicht bändigen.
Er hatte Thomas Ćavar an jenem Tag im Februar 1991 in Frankfurt kennengelernt. Etwa eine Stunde nach der Abschlusskundgebung war die Tür des Saales aufgegangen, zwei Männer waren eingetreten, ein großer Sechzigjähriger, ein schmaler Zwanzigjähriger mit Russenmütze, beide schneebedeckt, Josip Vrdoljak und Thomas Ćavar.
Marković hatte sie ihm vorgestellt.
Ich bin Herrn Josips Chauffeur, hatte Thomas gesagt.
Sie waren mit dem Auto von Stuttgart gekommen, hatten im Schneechaos für zweihundert Kilometer sieben Stunden gebraucht und die Demonstration verpasst.
Meine Schuld, sagte Thomas.
Ach was, bei der Kälte hätten wir uns hier nur den Tod geholt, sagte Vrdoljak.
Eine halbe Stunde später verabschiedeten sie sich.
Termin um acht in Rottweil, erklärte Vrdoljak lächelnd.
Abendessen bei den Ćavars.
Nur wenige Monate später, im Sommer 1991, war Ehringer selbst mit Margaret zu den Ćavars eingeladen worden und hatte verstanden, weshalb man ein Abendessen bei ihnen auch im größten Schneesturm nicht verpassen wollte.
Er betätigte die Spülung und kehrte in den Speisesaal zurück.
»Reden wir endlich Klartext, Marković. Das mit dem Orden und dem anständigen Grab kaufe ich Ihnen nicht ab. Schon gar nicht, nachdem ich Ihre Wanze in meinem Telefon gefunden habe.«
Marković lächelte überrascht.
Dann sprach er.
Thomas Ćavar habe im August 1995 in der Krajina »Schändliches« getan. Dinge, die sich kein Soldat irgendeines Landes erlauben dürfe. Wäre man seiner damals habhaft geworden, so wäre er unehrenhaft aus der Armee entlassen worden und hätte sich vor einem kroatischen Gericht verantworten müssen. Da die Umstände seines Todes derart mysteriös seien – keine Zeugen,
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