Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
hatte. Hans Eichel, eben zum hessischen Ministerpräsidenten gewählt, hatte ein Grußwort an die Demonstranten geschickt, Heidemarie Wieczorek-Zeul, die europapolitische Sprecherin der SPD -Bundestagsfraktion, hatte ihre Unterstützung bekundet, genauso Joschka Fischer, hessischer Umweltminister, und andere. Draußen, im Schnee, sprach Tilman Zülch, Vorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Völker, der die Schirmherrschaft übernommen hatte, zu den Teilnehmern der Kundgebung. Drinnen sagte Margaret: Richard, Tuđman verharmlost die Ustaša, das Konzentrationslager Jasenovac, holt sich radikale Nationalisten ins Boot, schürt bei den kroatischen Serben alte Ängste … Lasst euch doch nicht von diesem Volksverhetzer vorführen!
Ein Stück Kuchen, Schatz?
Nein, verflucht!
Sie hatten sich vor Friedrich Kusserow zum Kuchenbüfett gerettet, doch als Ehringer sich umdrehte, sah er, dass ihnen der Alte folgte. Mit eckig-barschen Gesten bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Vor allem der Außenminister und die Jugoslawien-Experten des AA standen im Fadenkreuz aufgebrachter alter Antikommunisten wie Kusserow von den Berliner Nachrichten , Reißmüller von der F.A.Z. , Ströhm von der Welt , allesamt Verlorene aus dem ehemals deutschen Osten, wie Margaret einmal spöttisch angemerkt hatte – Ostpreußen, Böhmen, Tallinn.
Nun hatten sich die Verlorenen aufgemacht, Kroatien zu retten, im Verbund mit dem engagierten Journalismus der Linken. Ihre Streitmacht wuchs im Laufe des Jahres 1991 rapide an. Während Kohl und Genscher aus Rücksicht auf die internationalen Partner noch zögerten, ergriffen Politik, Medien und Bevölkerung Deutschlands immer deutlicher für Kroatien Partei.
Margaret Ehringer dagegen verlangte Differenzierung, lautstark und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Doch Differenzierung war in jenen Tagen nicht en vogue.
Die Presse begann, sich auf sie einzuschießen.
Weil sie einen wirksamen Minderheitenschutz für die Serben in der Krajina einforderte, galt sie plötzlich als antikroatisch. Weil sie Tuđman einen »berechnenden Nationalisten« nannte, als Milošević-freundlich. Weil sie die Mitte 1991 proklamierte Unabhängigkeit Kroatiens als »zu früh«, »fatal« und »gefährlich« bezeichnete, als Jugo-Nostalgikerin und verkappte Kommunistin. Für eine stellvertretende Vorsitzende des größten Landesverbandes der SPD eine politische Katastrophe.
»Geht es Ihnen nicht gut, Dr. Ehringer?«
»Doch, doch. Entschuldigen Sie. Nur die Erinnerungen.«
Mit langsamen Armbewegungen rollte Ehringer zum Couchtisch zurück. Die Verbände um die Hände behinderten ihn, an den Knien scheuerte die Hose, die Schorfe rissen auf. Zweimal an diesem Tag schon hatte Wilbert Mull und Verband erneuert. Die nächste melodramatische Aktion musste besser durchdacht werden. Sich auch noch die wenigen funktionierenden Teile des Körpers zu ruinieren war schlichtweg dumm.
Achtzehn Uhr, ein betriebsamer Tag. Erst die Kriminaltechniker des Neffen, dann der Glaser, abschließend ein überraschender Besuch aus Zagreb – Ich bin gerade in Berlin und würde Sie gern besuchen, lieber Freund. Immerhin, die Unruhe hatte positive Aspekte: keine weiteren Telefonwanzen, eine neue Glasscheibe für die Balkontür, Gebäck vom Savignyplatz.
Ehringer nahm die Strickjacke vom Schoß, schlüpfte hinein. »Lassen wir die Toten ruhen, Marković.«
»Wenn sie uns nur ruhen lassen würden.«
»Der Junge ist zerfallen und verrottet, warum bereitet er Ihnen Sorgen? Fliegen Sie nach Hause, kümmern Sie sich um Ihr Land, und lassen Sie dem armen Kerl seinen Frieden.«
»Er hat mehr verdient als das. Einen Orden, wenigstens ein anständiges Grab.«
»Bosnien ist sein Grab, und das ist anständig genug. Begleiten Sie mich in den Speisesaal? Das Essen hier ist sehr zu empfehlen. Das Fleisch ist gestern noch glücklich über brandenburgische Wiesen gerannt, und der Koch wurde von einem elsässischen Sternerestaurant abgeworben.«
Marković erhob sich lächelnd. »Gute Köche sind rar.«
»Wie gute Schneider.«
Marković nickte. Sein langjähriger Schneider, erzählte er betrübt, sei vor einigen Jahren gestorben. Der Sohn habe übernommen, ein schläfriger Mensch, alles dauere nun doppelt so lange, und hin und wieder finde sich eine vergessene Nadel im Stoff. »Erlauben Sie mir, dass ich Sie schiebe?«
»Wenn Sie sich nicht an den Ausdünstungen eines nutzlosen Körpers stören.«
»Es gibt Wichtigeres, Dr. Ehringer.«
»Hier
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