Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Verkehrsberuhigte Straßen, die Häuser adrett, viele Kinder, aus gekippten Fenstern drangen die Stimmen der Eltern ins Freie. Ein Ort, der nicht weit von Adameks früheren Sehnsüchten entfernt war. Ein Haus wie dieses, zwei Töchter, die im Garten spielten, eine dazu passende Frau.
Es hatte Möglichkeiten gegeben, er hatte die Abzweigungen verpasst.
Milo Ćavar hatte sich im Vergleich zu den Fotos stark verändert, war noch fülliger, noch skeptischer geworden. Das Gesicht teigig, unter den Augen Ränder der Müdigkeit, die dunklen Haare lichteten sich, auf der Nase saß eine silbern gerahmte Brille. Ein ernsthafter, verantwortungsbewusster Mann, mittlerweile Filialleiter der Privatbank, bei der er seit 1998 arbeitete.
Und doch log dieser Mann.
»Herr Ćavar«, sagte Schneider, »in Rottweil wurde 2002 keine Geburtsurkunde auf den Namen Ljilja ausgestellt.«
»Sie wurde nicht in Rottweil geboren.«
»Sondern wo?«
»In Kroatien. In Osijek.« Seine Stimme war weich und freundlich. Ein Anlageberater im Gespräch mit zwei Kunden, denen er die Sorge um die Sicherheit einer Geldanlage nehmen wollte. Doch Adamek hörte auch Unruhe darin. Milo Ćavar sehnte den Moment herbei, in dem sie wieder gingen.
»Sie haben sie hier nie ins Familienbuch eintragen lassen.«
»Das haben wir vergessen.«
»Wurde in Osijek eine Geburtsurkunde ausgestellt?«
»Ja, natürlich.«
»Können wir sie sehen?«
»Leider haben wir sie auf der Rückfahrt verloren.«
»Sie sind mit dem Auto gefahren?«
»Ja.«
»Wie verliert man eine Geburtsurkunde in einem Auto?«
»Vielleicht haben wir sie bei meinen Großeltern vergessen.«
Schneider wirkte konzentriert. Auch sie wusste natürlich, dass Milo log. Sie versuchte, ihn durch Fragen in eine Sackgasse zu führen, bis sich die Wahrheit offenbarte. Ihre Taktik basierte auf dem Wissen, das sie durch akribische Recherche erworben hatte. Ihre Strategie war die Logik.
Eine gute Stategie.
Adamek versuchte zu begreifen, weshalb sie hier nicht zum Ziel führen konnte.
»Ljilja ist in keiner Schule in Rottweil angemeldet.«
Schweigen.
»Sie ist acht, Herr Ćavar. Wo geht sie zur Schule?«
»Hier.«
Schneider schüttelte den Kopf. Die Sonnenbrille verrutschte im Haar, sie legte sie auf den Couchtisch. »Nein.«
»Sie hat den Nachnamen ihrer Mutter.«
Erneut schüttelte Schneider den Kopf. Keine Ljilja Lehmberg an einer Rottweiler Schule.
Milo hatte den Blick auf seine Hände gesenkt, die im Schoß lagen.
Sekunden verstrichen, ohne dass ein Wort fiel.
Adamek unterdrückte ein Gähnen. Der Tag war lang gewesen, das Glas Sliwowitz tat ein Übriges. Er wollte eine Schmerzspritze, ein Bett, einen Fernseher, ein Bier aus der Minibar.
Er wollte endlich verstehen.
»Ljilja ist nicht von meiner Frau.«
»Dann verraten Sie uns, wer die Mutter ist«, sagte Schneider.
»Das kann ich nicht.«
»Weil die Mutter es nicht will?«
»Ja.«
»Sie war ebenfalls in Osijek? Zusammen mit Ihnen?«
»Sie wohnte damals dort.«
»Das heißt, Sie waren neun Monate davor auch in Osijek?«
»Ja.«
»Mit dem Auto, nehme ich an.«
»Ja.«
»Haben Sie noch irgendwelche Reisebelege? Tankquittungen, Restaurantrechnungen?«
»Nein.«
»Aber es gibt die Stempel der Grenzposten, richtig? Slowenien gehört erst seit Januar 2008 zu den Schengen-Staaten, Kroatien ist nicht in der EU .«
Milo lächelte entschuldigend. »Manchmal stempeln sie, manchmal nicht.«
Adamek richtete den Blick wieder auf die Mädchen im Garten, die sich nicht gerührt zu haben schienen. Sie saßen da, als wären sie mit dem Erdboden und miteinander verwachsen. Nichts anderes kümmerte sie, nicht die kühle Abendluft, die allmählich heraufziehende Dämmerung, die beiden Fremden im Wohnzimmer ihrer Eltern.
Und plötzlich verstand er, worum es ging: um Verbundenheit.
Thomas und Milo, die beiden Brüder, der eine Bayern-Fan, der andere Stuttgart-Fan. Hatten ein Zimmer geteilt, bis sie Anfang zwanzig gewesen waren. Das Zimmer existierte noch, dieselben Poster wie damals, dieselben Betten, dieselben Schränke …
Dieselbe Verbundenheit –Thomas hatte ein Kind bekommen, Milo gab es als seines aus.
Thomas lebte, Lilly war bei ihm. Milo log, um die beiden zu schützen, vor wem auch immer – den deutschen oder den kroatischen Behörden, Ivica Marković, dem Haager Strafgerichtshof, einem Schatten aus dem Krieg, dessen Rache Thomas fürchtete.
Adamek erhob sich. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Er trat zu dem schnurgebundenen
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