Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
standen an einer Straßenkreuzung beim Kroatischen Nationaltheater, nicht weit von Ahrens’ Wohnung entfernt. Zehn, fünfzehn Minuten, hatte Vori prognostiziert, dann würde sein Mann am Straßenrand halten. Sie würden einsteigen, herumfahren, reden.
Inzwischen waren dreißig Minuten vergangen.
»Kein gutes Zeichen.«
»Glaubst du, er kommt nicht mehr?«
»Er ist längst da.«
Sie runzelte die Stirn.
Vori lächelte und sagte: »Er ist zweimal an uns vorbeigefahren. Ein alter grüner Opel Kadett, das Kennzeichen beginnt mit ›KA‹.«
»Und warum hält er nicht?« Vori hatte dem Informanten per SMS mitgeteilt, dass er sie mitbringen werde. Daran konnte es also nicht liegen.
»Vielleicht denkt er, dass wir observiert werden.«
»Du oder ich?«
»Du.«
Sie hatte damit gerechnet. Vori zu observieren lohnte sich nicht mehr. Niemand konnte ihn noch einschüchtern. Über viele Jahre hinweg hatte er gezeigt, dass er sich nicht in seiner Arbeit behindern ließ, weil er sie über alles andere stellte und jeden Verlust in Kauf nahm.
Außerdem war er schwer zu beschatten. Er hatte keinen offiziellen Wohnsitz, tauchte hier auf, dort, verschwand manchmal für Tage. Ins Internet ging er nur über öffentliche WLANS , die Handynummer wechselte er wöchentlich.
Er war zum Geist geworden.
»Nicht hinschauen«, sagte er.
Ahrens starrte vor sich auf die Straße, wartete, bis der grüne Kadett durch ihr Blickfeld fuhr. Am Steuer saß ein gedrungener, alter Mann, dessen ausgestreckter rechter Arm auf dem Lenkrad lag. Er sah nicht herüber.
Hielt wieder nicht.
»Und jetzt?«
»Wir warten. Er wird sich melden.«
Sie standen dicht nebeneinander, hatten die Köpfe zueinander geneigt, ihre Arme berührten sich. Flüsternd sprachen sie über Zadolje.
Irena hatte Vori den Artikel gezeigt. Er kannte ihn nicht, hatte auch das Foto mit dem alten Serben und dem Kapetan nie gesehen.
»Wer der Kapetan ist, weiß ich noch nicht«, sagte Ahrens. »Der Serbe hieß Miloš Karanović.«
»Der alte Mann, den sie auf der Straße getötet haben.«
Aus Voris Telefon drang Glockenläuten, eine SMS .
Er seufzte. »Wir müssen ein bisschen Verstecken spielen.«
Sie hatten sich getrennt. Vori war zu seinem Wagen gegangen, Ahrens an ihrer Wohnung vorbei zum Bahnhof. Ein paar letzte Besorgungen fürs Abendessen im Importanne Centar, dem unterirdischen Einkaufszentrum, wie immer kurz vor Geschäftsschluss, das kannte man von ihr.
Sie eilte durch die schmalen Gänge der nicht mehr ganz taufrischen Mall unter dem Starčevića-Platz, betrat einen Supermarkt, griff wahllos hierhin, dorthin.
Um neun rannte sie in der Tiefgarage auf Voris Fiat Panda zu, schlüpfte nach hinten und zwängte sich in den Fußraum vor der Rückbank.
»Wenn wir das öfter machen, brauchst du ein größeres Auto.«
»Ja«, erwiderte er und warf eine muffelige Decke über sie.
»Wohin fahren wir?«
»Novi Zagreb.«
Die Trabantenstadt im Süden Zagrebs aus den siebziger Jahren, jenseits der Save gelegen, die verschämt einen Bogen um die realsozialistischen Betonkolosse zog. Fast zweihunderttausend Einwohner, über fünftausend lebten allein im »Mamutica«, mit zwölfhundert Einheiten eines der größten Wohngebäude Europas.
Der sozialistische Traum.
Hier hatten sie alle auf engstem Raum nebeneinander existieren sollen, die Ärmeren, die Wohlhabenderen, die Einfacheren, die Anspruchsvolleren. Am Ende war das Mamutica, war halb Novi Zagreb ein trister Albtraum aus Beton mit leckenden Rohren, bröckelnden Fassaden, schlechter Isolierung, Dreck und viel Gewalt.
Im September hatte Ahrens für Henning Nohr eine Geschichte über das Mamutica geschrieben. Eine Wasserleitung war geborsten – die Bibliothek im Gebäude überschwemmt, der Bestand zum Teil vernichtet, »nicht einmal Bücher scheint das Schicksal den Verlorenen hier noch zu gönnen«.
Gut, gut, hatte Henning Nohr gegrummelt, ein bisschen Sozialromantikkitsch braucht’s auch, aber beim nächsten Mal bitte wieder was mit Pepp.
Mit Pepp, dachte sie auf dem Boden von Voris altem Panda und musste lächeln.
Zehn Minuten lang wurde sie auf dem holprigen Straßenbelag durchgeschüttelt, dann hielt Vori. »Komm vor, sie sind weg.«
Sie setzte sich neben ihn. »Wenn da überhaupt jemand war.«
»Sicher. Er weiß schon, was er tut.«
Als sie die Save überquerten, glommen Tausende Lichter vor ihnen am Nachthimmel, die beleuchteten Schächtelchen der Hochhäuser von Novi Zagreb. Selbst die Luft, die durch
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