Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
das halb geöffnete Fenster drang, schien auf dieser Flussseite anders zu riechen – faulig, steinern, tot.
»Wer ist er eigentlich? Wie heißt er?«
Vori zuckte die Achseln. »Auf jeden Fall nicht Slavko.«
Slavko hatte viele Jahre in der Jugoslawischen Volksarmee gedient, dann noch ein paar in der Kroatischen Armee, seit 2000 war er pensioniert. Vor drei Jahren hatte er Vori zum ersten Mal über dessen Blog kontaktiert und ihm bei einem Telefonat Informationen zu den Operationen »Medak« und »Sturm« angeboten. Er habe seine Arbeit verfolgt, wolle dazu beitragen, dass Kriegsverbrechen geahndet würden. Als Zeuge vor Gericht werde er jedoch niemals aussagen – er habe Kinder und Enkel, eine kranke Frau, die ohne ihn nicht lebensfähig sei, eine hundertjährige Mutter. Er wolle nicht enden wie Milan Levar, und er wolle seine Familie nicht in Gefahr bringen.
Seitdem trafen sie sich alle paar Monate.
»Er kommt extra aus Karlovac hierher?«
»Nicht aus Karlovac. Das Nummernschild ist falsch, so unvorsichtig ist er nicht. Er lebt in Sisak.«
Karlovac lag fünfzig Kilometer von Zagreb entfernt, Sisak neunzig. »Muss ihm viel wert sein, dich zu treffen.«
»Mit mir zu reden.«
»Und er weiß etwas über Zadolje?«
Vori sah sie an. »Er war dort, mit dem 134. Regiment.«
»Hat er die Morde gesehen?«
»Nein.«
Für einen Moment war sie enttäuscht. Was sollte ein Treffen mit Slavko bringen, wenn er die Morde nicht beobachtet hatte? Dann fiel ihr ein, dass sie nicht unbedingt einen Zeugen brauchte – schon gar nicht, wenn er nie vor Gericht aussagen würde. Sie brauchte nur einen Namen.
Den Namen eines Mörders.
Das, dachte sie, war doch »was mit Pepp«, Henning. Ein Mörder wird identifiziert, kommt, falls er noch lebt, vor Gericht. Eine deutsche Tageszeitung berichtet als Erste darüber. Denn sie, Henning Nohrs Korrespondentin, hat den Mörder gefunden.
Vori erzählte von Slavko, der einmal gesagt hatte, er sei außen Kroate und innen Serbe. Er stammte aus den Kozara-Bergen in Nordwestbosnien, der Region um Prijedor und Omarska. Dort hatten im Sommer 1942 kroatische Ustaše und die deutsche Wehrmacht im Kampf gegen die Partisanen serbische Dörfer überfallen, zahlreiche Menschen umgebracht und Tausende Kinder verschleppt, darunter Slavko und dessen Geschwister. Die jungen Gefangenen wurden auf die drei »Kinderlager« der Ustaše verteilt, deren größtes Sisak war. Ein Außenlager des KZ Jasenovac zur »Umerziehung«, von 6700 Kindern starben hier bis 1945 1600. Viele überlebten nur deshalb, weil sie von Rot-Kreuz-Mitarbeitern als Hof- oder Haushaltshilfen aus dem Lager geholt, von Widerstandssympathisanten fortgebracht, von kroatischen Familien als »Verwandte« ausgegeben wurden.
Auch Slavko wurde auf diese Weise aus Sisak gerettet. Er hatte drei Geschwister verloren und bekam zwei neue. Er ging zur Armee und vergaß. Doch je älter er wurde, desto mehr Erinnerungen stiegen aus seinem Unterbewusstsein auf. Die abgemagerten Leiber, die kleinen Leichen, die Betten aus Stroh und dünnen Decken. Krankheiten, Schläge, Angst. Die Ustaša-Uniformen, in die man die Kinder gezwungen hatte, um aus ihnen Kroaten zu machen. Die Zeit schickte ihn zurück, legte seinen serbischen Kern frei.
Seit ein paar Jahren wohnte er mit seiner Frau wieder in Sisak. Jeden Tag ging er zum Fluss Kupa, dorthin, wo das Lager gewesen war. Erinnerte sich.
Vori hatte den Wagen vor einer Bar ausrollen lassen. Musik drang an ihr Ohr, ein Stück von Thompson.
Warten auf weitere Instruktionen.
»Die Kupa«, sagte Vori und lächelte.
An der Kupa hatten sie sich zum ersten Mal getroffen, nicht in Sisak, sondern bei Karlovac, in einer Nacht im Sommer 2007. Slavko hatte eine Stelle als Treffpunkt genannt – und auf der anderen Flussseite gewartet.
»Er hat angerufen und gesagt, ich soll rüberschwimmen. Er wollte sichergehen, dass ich allein bin. Ich habe gesagt, ich kann nicht schwimmen, kann ich mit dem Auto kommen? Verarsch mich nicht, hat er gesagt, jeder kann schwimmen, steig ins Wasser und schwimm rüber, dauert zehn Minuten, mit dem Auto dauert es eine Stunde, bis dahin bin ich weg. Ich habe gesagt, dann lassen wir es eben, ich war noch nie in einem Fluss, ich habe Angst vor Wasser, ich geh da nicht rein, lecken Sie mich am Arsch.«
Ahrens musste schmunzeln. Goran Vori, der aus Kriegsgebieten berichtet hatte und nichts und niemanden zu fürchten schien, hatte Angst vor Wasser. »Und weiter?«
Er war mit dem Auto auf
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