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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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nicht einfach im Interview feststellen, ich würde zur Kenntnis nehmen, dass nicht Herr Johann Wais bei der SA war, wohl aber sein Pferd?«
    »Wollte ich dir nachher vorschlagen. Das bringt eine kräftige, heitere Note in die Angelegenheit, das ist griffig und verheerend für ihn.«
    »Die Wahlen gewinnen wir damit nicht«, sagte Marits. »Halb sieben hier?«
    Johannes nickte und ging in sein Büro zurück. Bevor er das nachbereitende und das vorbereitende Dossier hinwarf, machte er noch einen kleinen Spaziergang auf dem Heldenplatz, setzte sich auf eine Bank und sah wiederum den Ärschen der Fiakerpferde hinterher.
    21.
    Der Auszug aus Ägypten ward vollbracht. Erschöpft und zufrieden saßen die Gäste vor den leer gegessenen Tellern, sprachen allesamt noch dem Dessert zu, welches Cilla Segal persönlich hereingebracht und zugeteilt hatte. Stefan konnte von dem süßen Zeug nicht genug bekommen, er aß sich bis ins Herz dieser Götterspeise, fragte zweimal nach dem Namen und vergaß ihn wieder. Ernst Segal beobachtete ihn von seinem Vorsitzplatz aus den Augenwinkeln, auch Dolores verfolgte entzückt mit ihren Blicken die Speisestücke, bis sie in Stefans Mund verschwunden waren. Als Stefan endlich den Teller von sich schob, erhob sich Segal, sagte: »Alsdann. Darf ich euch bitten?«, und alle erhoben sich, um mit ihren Gläsern in der Sitzlandschaft nebenan sich zu verteilen. Boaz und Sissy wanderten im Raum umher, die beiden Schwestern Schmelczer waren in einen kleinen tuschelnden Streit verwickelt. Cilla half dem Personal, den Esstisch abzuräumen. Ernst nahm sich eine Zigarre von einem Tischchen aus einem Holzkästchen heraus, biss die Spitze ab, zündete die Zigarre an und blies den Rauch in
Richtung seiner Gäste. Dolly ergriff Stefans Hand, führte sie rasch zu ihrem Oberschenkel und flüsterte ihm ins Ohr: »Hat es dir gefallen?«
    Er nickte und drückte ihre Finger und sah durch den Zigarrenrauch hindurch auf die einander bezischenden Schmelczerschwestern.
    »Darf ich Sie einen Moment stören?«, fragte Segal, der plötzlich neben den beiden stand und auf sie herunterblickte. »Darf ich dir Stefan einen Augenblick entführen?«
    Stefan erhob sich, während Dolores nickte, und folgte ihrem Vater. Der führte Stefan in eine Art Comptoir, ging um den Schreibtisch herum, bot ihm den gegenüberliegenden Sessel an und setzte sich. Auch Stefan nahm Platz und fragte sich, was das nun werden solle.
    »Alles, was Sie da sehen, das Haus, die Möbel, die Gäste«, hob Segal an, »ist ein Wunder. Ist ein Wunder.«
    Er schwieg und schaute dem jungen Mann lange ins Gesicht. Stefan wollte eigentlich den Blick abwenden, doch er vermochte es nicht. So sah er gleichermaßen dem älteren Herrn auf die Pupillen, die, hinter den Brillengläsern vergrößert, von versprenkeltem Graugrün umgeben waren.
    »Ich war vierzehn Jahre alt, als die Nazis die Sowjetunion überfielen und meine Heimatstadt Czernowitz unter die Verwaltung der rumänischen Faschisten kam. Wir wohnten in der Kobilanskastraße, meine Eltern führten eine Kunstdruckerei, ich ging aufs Gymnasium. Wir alle wurden als Juden ins Ghetto gesteckt und hernach nach Transnistrien verbracht. Ich habe als Einziger der Familie überlebt. Es gab dort nichts außer Dreck und verhungernde Leute, Leichen, Seuchen, Gestank. Transnistrien, das war die Hölle.«
    Segal wich Stefans Blick aus, sah auf den Plafond.
    »Es war eine Hölle unter den vielen, in die die europäi
schen Juden hineingeraten und in der sie verbrannt worden waren.«
    Er holte Atem und wandte sich wieder seinem Gegenüber zu.
    »Nach der Befreiung bin ich über Bukarest nach Wien. Es hat mir wer geholfen. Ich konnte maturieren, studieren und bin schließlich Gartenarchitekt geworden. Und das alles konnte ich mir aus den Sümpfen von Transnistrien schaffen.«
    Segal hob den Blick und zog die Augenbrauen nach oben.  
    Stefan stellte sich hinter diesen Augen eine Sumpflandschaft vor, in welcher verhungerte Menschen sich in Lumpen zwischen Ruinen bewegten oder auf einem Haufen zusammenlagen mit versteiften, in die Luft ragenden Armen, als wären sie beim Betteln gestorben. War das in dem Film übers Warschauer Ghetto, dachte er, der unlängst im Fernsehen lief, und ich habe gleich zu einem andern Sender gewechselt.
    »Ich habe einen Film übers Warschauer Ghetto gesehen«, sagte Stefan mit lauter Stimme. Segal nickte.
    »Tjaja, eine der Höllen. In Filmen sieht man aber nichts. Und man riecht nichts. Was machen

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