Der Kalte
schaute er dem Fraul aufmerksam ins Gesicht. »Was ist denn dir über die Leber gelaufen?«
»Einer der Schauspieler ist gestorben, ich bin gegangen.«
»Was du nicht sagst«, erwiderte Gelernter, griff sich dabei kurz an die Brust. »Schöner Tod, direkt von der Mokkatasse weg. Und im Umkreis guter Freunde.«
Gleich wird, dachte Fraul missmutig, die Nervensäge anfangen, von den jüdischen Toden zu reden, die sich nicht so gemütlich und wohlgerundet ereignet hatten. Gelernter musste als Achtjähriger einst mit seinem Vater das Land verlassen. Es verschlug ihn nach Mexiko, wo er, nachdem sein Vater aus Gram wegen des Selbstmords von Georgs Mama in der Reichspogromnacht, verstorben war, bei hartherzigen und sehr sparsamen Verwandten aufwuchs. Ihm blieb, da damals niemand mit ihm mehr als das Nötigste sprach, nichts übrig, als sich die Zeit mit Zeichnen zu vertreiben. Mit wenigen dürren Strichen kennzeichnete er Personen zutreffendst. Mit seiner Fähigkeit, seine Umgebung mit wenigen Sätzen in das Universum seiner üppig ausgebildeten Paranoia einzuschließen, machte sich Gelernter nicht sonderlich beliebt, man wich ihm aus. Früher hatte er sich des jungen Fraul angenommen, wollte diesen vor allem in die Jüdischkeit einführen und warf ihm immer wieder vor, dass er seine Herkunft zu verleugnen trachte, obgleich seine tapfere Mutter Auschwitz überlebt hatte. Anfangs hatte sich Fraul davon auch beeindrucken lassen
und eine Zeit lang trug er sogar einen Davidstern um den Hals. Als er nach Graz engagiert worden und somit auch aus dem Dunstkreis von Gelernter geraten war, hatte er aufgehört, sich weiter mit seinem Judentum zu beschäftigen. Er tat es als albernes Herkunftsgehüpfe ab.
Gelernter begann nun, nachdem er den Mantel neben sich auf den Sessel gelegt hatte, über den Präsidentschaftskandidaten Johann Wais herzuziehen. Er fragte Fraul, was er als guter Judenjunge dagegen zu unternehmen gedächte. Denn die Nazis begännen sich nun in Österreich wieder festzusetzen. Karl setzte auf eine abschnurrende Art und Weise den Zeichner in Kenntnis, dass sich Künstler und Intellektuelle ohnedies zu organisieren begännen, dass er aber lieber beiseitestünde. Frauls Blick blieb hiebei auf die Eingangstür gerichtet.
»Da ist meine Mutter«, sagte er und deutete auf die eintretende Rosa. Gelernter stand auf, verneigte und verabschiedete sich. »Wir sprechen uns noch«, rief er.
»Wer war das gleich?«, fragte Rosa.
»Egal.« Fraul küsste seine Mutter auf die Wange, sie ließ sich nieder, er trug ihren Mantel zum Kleiderständer. Beim Zurückkommen sah er sie etwas in sich versunken dort sitzen. Karl stiegen ein paar Tränen in die Augen, sodass er mit einer vagen Geste an ihr vorbei zur Toilette hastete. Er besah sich im Spiegel, riss sich ein Papierhandtuch herunter. Als er sich anschickte, sich kräftig zu schnäuzen, hörte er die Klospülung, und Gelernter kam aus der Kabine. Er sah Fraul ins Gesicht und ging wortlos hinaus. Karl bemerkte ein kleines Lächeln, das sich dem Zeichner hiebei ins Antlitz gemalt hatte. Er schüttete sich einige Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, beruhigte sich und kehrte zu seinem Tisch zurück.
Edmund Fraul hörte dem Geräusch hinterher, das die zugeschnappte Wohnungstür hinterlassen hatte. Er lehnte sich zurück und richtete seine Augen wiederum auf den Fernseher. Eine Menschenmenge war zu sehen. Vor den Leuten stand ein bekannter ORF -Reporter und sprach in die Kamera, währenddessen die Umstehenden hineingrinsten, hineinwinkten, und einer von ihnen platzierte mit Zeige- und Mittelfinger ein V über dem Schädel des unbeirrt auf die Kamera einsprechenden Mannes. Manderlradio, dachte Fraul, hatte einst ein österreichischer Bundeskanzler das Fernsehen genannt. Seine Partei hatte sich auf die Monopolisierung des Radios konzentriert und das Fernsehen den Sozialdemokraten überlassen. Einer der Radioprogrammdirektoren hatte Übelohr geheißen und die Anstalt war anfangs in der Taubstummengasse angesiedelt. Frauls Augen wurden schwer, der Nachrichtensprecher kam ihm als durch den ständigen Wimpernschlag unterbrochenes Laufbildereignis ins Auge, und vom Kinn her stieg ihm die Schläfrigkeit hoch. Hatte der Fernsehdirektor nicht Freund geheißen, nach dem Gruß der Sozis, Freundschaft, Genossen?
Rosa ist also wieder kommentarlos aus dem Haus gelaufen, dachte Fraul noch, dann fiel ihm sein Kopf auf die rechte Schulter, und er begann zu schnorcheln. Er fuhr hoch und
Weitere Kostenlose Bücher