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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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Bundeskanzleramt. Schließlich sagte Tschonkovits:
    »Aufgeben tut man einen Brief.«
    Doch am Sonntagabend hatte Wais knapp die absolute Mehrheit verfehlt. In einem Monat würde es zur Stichwahl zwischen Wais und Neuner kommen. Die grüne Kandidatin hatte bloß fünf Prozent erhalten, doch diese erzwangen die zweite Wahl. Bevor Marits zum Fernsehen musste, hatte er sich nochmals mit Neuner und Tschonkovits zurückgezogen.
    »Neunundvierzigkommavierundsechzig Prozent«, mummelte er.
    »Die Stichwahl gewinnen wir«, antwortete Tschonkovits und blickte auf Neuner. Der nickte langsam.
    29.
    (Aus dem Tagebuch des jungen Keyntz)
4. 5. 1986
    Ich weiß überhaupt nicht, was dieses blöde Tagebuchschreiben soll. Ich brauch doch nicht aufschreiben, wie ich was wie oft aus mir herausgeschissen habe. Vielleicht hats bloß dann einen Sinn, wenn ich etwas da hineinschreibe, was ich später brauchen kann, was Wichtiges halt. Aber wie soll ich denn heute wissen, was für mich übermorgen oder in zehn Jahren wichtig ist? Und doch hab ich das Gefühl, etwas festhalten zu müssen, obs nun wichtig ist oder nicht. Oft hab ich aber auch keine Lust, irgendwas hineinzuschreiben, obwohl ich denke, das sollte ich mir für später aufheben.
    Merkwürdig ists, mit Dolly in der Klasse zu sitzen wie mit allen anderen und doch mit ihr was Besonderes zu haben. Ich könnte sie ständig anschnuddeln, sie andauernd anfassen. Ich muss mich zusammenreißen, damit ich ihr nicht dauernd auf den Arsch stiere, wenn sie an der Tafel steht. Der Tschurtschi beobachtet mich eh ständig, dieser Neidhammel.
    Dolly hat mir vorgeschlagen, dass wir unsere Liebe zwar nicht geheim halten, aber auch nicht demonstrieren sollen, hier in der Klasse. Das finde ich okay, aber dann steh ich oft in der Pause irgendwo rum und hör dem Caspar zu, wenn er mir seine amerikanischen Abenteuer erzählt, oder ich red mit dem Tschurtschentaler über den Scheiß-Wolfsgang, weil der ihn derzeit auf dem Kieker hat, doch immer denke ich an sie und müsste mir Scheuklappen anlegen wie so ein Zirkuspferd, damit ich sie nicht dauernd aus den Augenwinkeln suche. Eifersüchtig bin ich auch viel zu schnell, auch wenn ich mich bemüh, ihr das nicht zu zeigen.
    In einer Stunde treffe ich mich mit ihr beim Schnitzler im Türkenschanzpark. Ich wollte eigentlich, dass sie herkommt, aber sie will nicht, weil sie die Tage hat und daher nicht mit mir schlafen kann, obwohl sie grad da besondere Lust hätte. Und hier nur so rumknutschen, das quält.
    Heute sind Bundespräsidentenwahlen. Dolly sagt, der Wais sei eine Art Nazi, und wenn der gewinnt, überlegt sich ihr Vater ernstlich, nach Israel auszuwandern. Eigenartig, so ein Präsident hat doch bei uns kaum Macht, und Nazigesetze kann der doch nicht einführen. Dolly findet es zwar auch arg, wenn der Wais gewählt wird, aber nach Israel will sie nicht übersiedeln, und ihre Mutter schwankt hin und her. Ich finds ziemlich paranoid, aber Juden sind nunmal oft paranoid wegen des Holocausts oder so.
    Gerade hat Mutter angerufen. Ich glaub, es geht ihr schon etwas besser, jedenfalls trifft sie sich regelmäßig mit einigen Frauen, die meisten davon Sängerwitwen, wie sie ja auch. Sie will, dass ich nachmittags vorbeikomme, sie hätte was mit mir zu besprechen. Was wird denn das wieder sein?
    Irgendwie ist bei ihr eine Schraube locker. Sie fragt mich doch glatt, ob ich wählen war, als ob ich schon wählen darf. Dann entschuldigt sie sich: das ist ihr jetzt aber peinlich, aber ich bin ja in letzter Zeit schon so erwachsen geworden. Hoffentlich wird sie nicht auch noch verrückt. Ich hab sie gefragt, wen sie gewählt hat, sie sagte, den Wais, wie es Papa gemacht hätte. Ich hab ihr gesagt, das ist mir neu, dass Papa Nazis gewählt hat. Darauf hat sie nichts erwidert. Ich hab schon Angst gekriegt, sie fängt zu weinen an. Woher ich das habe, hat sie mich dann gefragt. Der Doktor Wais ist doch kein Nazi. Bevor wir da jetzt weiß ich wie lang rumtelefonieren, habe ich das Gespräch beendet. Was will sie von mir, verdammt? Nun muss ich aber los.
    5. 5. 1986
    War gestern Abend noch bei den Segals. Wir saßen fast die ganze Zeit vor dem Fernseher wegen der Wahlen. Wais hätte fast im ersten Wahlgang gegen Neuner gewonnen. Das wär mir ziemlich wurscht gewesen, wenn nicht Segalvater und Segalmutter vor der Glotze fast zusammengebrochen wären. Die Mutter hat zu weinen angefangen und ist verschwunden, der Vater hockte stumm da mit einem Gesicht, als wäre der Hitler

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