Der Kalte
Reichenau, dachte sie. Sie machen Urlaub, ist doch gut.
Hugo Sillinger klopfte an, kam herein.
»Alles in Ordnung, Rosa?« Sie nickte und beugte sich über eine Kartei.
38.
(Aus dem Tagebuch des jungen Keyntz)
2. 9. 1986
Ein brennheißer Sommer war das. Lang nix mehr hineingeschrieben in mein geduldiges Sudelbuch. Es ist schon komisch: Als Dolly nach Jerusalem musste wegen diesem Scheißwais, hab ich eine Zeit lang die Margit verstanden, so mies gings mir. Wozu investiert man so viel in eine Liebe, und dann zerbröselts, und alles war für die Katz. Auf einmal hab ich das Gefühl gehabt, ich kann überhaupt nichts mehr spüren. Ich hätte ebenso in die Donau gehen können, es wäre mir dabei weder kalt noch eklig zumute gewesen, es wäre ganz wurscht gewesen, oder ich wär vom Ringturm gesprungen oder hätte mich aufgehängt. So leb ich einfach weiter, geh in die Schule, hör einmal die, einmal eine andere Musik, egal. Plötzlich hab ich mir gedacht, ich bin eh wie die Mutter. Die sitzt herum, spielt mit Freundinnen Bridge, aber auch ihr ists egal, was man dabei redet, ob sie gewinnt, sie macht immer das gleiche Gesicht so wie ich auch. Im Spiegel immer mein blödes Po
kerface. Weil ein Mann seinen Sex haben muss, bin ich mit Helen zusammen. Die ist eh lieb, aber zu anhänglich; also sag ich einmal ja, dann nein, schick sie fort, bestell sie her. Sie lässt sich das bieten, aber ich glaub, nicht nur von mir; von allen lässt sie sich irre viel gefallen. Ihr Vater soll ein Wüterich sein, andauernd brüllen, er ist irgendein hohes Viech in der Wirtschaftskammer, ihre Mutter hab ich einmal zufällig mit Helen im Supermarkt gesehen, die schaut aus wie meine Mutter, alles leidende Leut. Und ich unter ihnen, aber so, dass ich nicht einmal gespürt hab, dass ich groß leide.
3. 9.
Am ehesten spüre ich noch etwas, wenn ich Carmen höre.
Guido Messerschmidt hatte mich eingeladen, Mitte Juli nach Reichenau zu kommen. Er singt beim Wiener Singverein, und sie haben dort ein Konzert gegeben. Ich bin hingefahren. Manchmal hab ich schon früher überlegt, ob ich nicht in einem Chor singen sollte einerseits und anderseits vielleicht eher mehr mit der Gitarre machen, vielleicht eine Band gründen.
Gestern Abend hat Dolores angerufen. Wir haben geplauscht und so, sie war halt freundlich. Die ist einfach zu weit weg. Ich hab erst ein Kribbeln gespürt, als das Gespräch zuend war.
In Reichenau haben sie das Deutsche Requiem gesungen. Guido ist mitten unter den Männern, genau in der Mitte gewesen, er hat mit sehr ernstem Gesicht gesungen. Ich hab Vati einmal bei diesem Brahms gehört, damals war mir ziemlich fad. Dieses Mal, und zwar nicht wegen Guido, hats mich mitgenommen, das war das erste Mal seit Dolly einfach abgehauen ist, dass ich was empfunden hab. Deut
sches Requiem für Dolores Segal. Ich hab mir das echt vorgestellt. Nachher bin ich mit ihm in einem der Kurcafés gewesen, eine Ärztin ist dazugekommen, diese Doktor Haller, die damals mit der Margit fast schon befreundet war, sie aber so behandelt hat, dass das dabei herausgekommen ist. Messerschmidt redete über Bach als Thomaskantor, er empfahl mir, Bachchoräle zu hören, aber auch Orff. Die Doktor Haller hat mich ausgefragt, wie es mir geht, sie sprach aber den Namen meiner Schwester nicht aus. Ich wollte ihr sagen, sie könnte sich ruhig bei mir danach erkundigen, wie es der Margit Margit Margit jetzt wohl so geht, doch sie flüsterte plötzlich zu Messerschmidt: »Die Astrid von Gehlen!« Ich schaute zum Eingang, sah von ihr keine Spur, aber den geschissenen Fraul. Der bemerkte mich, blieb wie angewurzelt stehen, ich ballte die Fäuste. Astrid, die offensichtlich vor ihm gegangen war, kam zurück und zog ihn weg. Was die Haller und der Messerschmidt nachher geredet haben, weiß ich nicht, ich wollte sofort nach Wien zurück. Schließlich wars auch egal. Ich war noch mit ihnen promenieren, das tut man dort, und dann bin ich mit Guido in seinem Auto nach Wien zurückgefahren. Bevor er mich vor meinem Haustor aussteigen hat lassen, hat er mir vorgeschlagen, ich sollte im September einmal zum Chor kommen, wenn ich will.
4. 9.
Jetzt habe ich Dolores einen Brief geschrieben. Ich möchte ihn aber hier nicht abschreiben, es war ein sehr blöder Brief, aber wahr. Ich hab ihr von meiner Gefühllosigkeit geschrieben und dass ich nix dafür kann. Dann hab ich von Helen erzählt und vielleicht übertrieben, weil eigentlich ist mir die gar nicht wichtig,
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