Der Kalte
beim Hinterausgang des Café Riedel hinaus, über den Flur und betraten den Saal des Club Diderot. Es waren bereits an die vierzig Personen anwesend. Als sie Fraul sahen, klatschten sie los. Samueli und Fraul gingen zum Tisch, auf dem eine Wasserkaraffe stand. Neben dem Tisch war ein Rednerpult, und an der Wand dahinter war ein riesiges Foto vom Holzpferd angebracht.
Samueli leitete ein, bat Fraul zum Rednerpult. Als Fraul anhob, war es sehr still im Saal. Er begann langsam und bedächtig zu sprechen. Mir kam es vor, als taste sein Blick dabei jedes einzelne der Gesichter ab. Plötzlich blieb er ein Weilchen an meinem Gesicht haften, mir wurde es ungemütlich. Was will er von mir, dachte ich. Nachdem er eine Weile geredet hatte, schien mir, als stiege unversehens eine Art in sich zerknäuelter Bitterkeit in ihm hoch. Sein Mund wurde trocken, er unterbrach, schenkte sich Wasser ein. Er fuhr fort und war nach fünfundvierzig Minuten fertig.
In der anschließenden Diskussion drehte sich alles um die Frage, in welcher abgewandelten Art und Weise sich Auschwitz wiederholen könne. Schließlich stand ein Mann aus dem Publikum auf und fragte, was geschehen wäre, wenn Fraul damals statt der Häftlings- die SS -Uniform angehabt hätte. Samueli protestierte sofort, wollte ausführen, dass es kein Zufall war, dass Herr Fraul als Häftling in Auschwitz gelitten hatte, doch Fraul gebot ihm mit einer jähen Handbewegung Einhalt. Es wurde still, dann hustete jemand.
»Diese Frage müssen Sie sich selbst, und zwar heute, stellen. Was mich betrifft, will ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich, wie ich steh und geh, wie ich war und bin, längst auf diese Frage geantwortet habe.«
»So ist es«, sagte Samueli schnell und begann zu klatschen. »Das nehme ich als Schlusswort.«
Fraul nickte mit dem Kopf, alle außer ihm applaudierten.
»Wollen Sie drüben noch etwas essen?«, fragte Samueli. Fraul schüttelte den Kopf.
»Machen Sie weiter«, sagte er, gab ihm die Hand, nahm die meine, nickte allen anderen zu und ging.
Samueli sah mich an: »Na?« Meine Güte, dachte ich. Jetzt will er gelobt werden.
»Runde Sache«, sagte ich und schlug ihm auf die Schulter. »Wir kommen voran.«
4.
Karl Fraul versuchte, wenn er seine Mutter besuchte, der Oberärztin Haller auszuweichen. Jedes Mal wenn er sie sah, wurde ihm flau. Als würde neben dem Stethoskop Margit aus der Brusttasche des Ärztekittels herausschauen. Als würde in Hallers Schatten jedes Mal Margit zusammengekauert auf dem Boden sitzen. Wenn Inge Haller auf dem Flur eiligen Schrittes an ihm vorbeikam, weil sie dringend gebraucht wurde, vermeinte Karl, sie liefe zu Margit, die aus dem letzten Zimmer am Ende des Ganges lautlos herausschrie. So ging er stets gemessen an der Ärztin vorüber, grüßte sie knapp, hielt den Blick am Boden.
Heute hatte Rosa sich bei ihm erkundigt, wie er bei den Proben vorankomme.
»Wie ists, den Antisemiten Hochroitzpointner zu geben?«
»Weißt du, ich denke gar nicht an ihn als Antisemiten«, sagte Karel, auf dem Bettrand sitzend und nachdem er den Titel des Romans, der aufgeschlagen auf dem Nachttisch lag, gelesen hatte. »Die vierzig Tage des Musa Dagh«, murmelte er. »Werfel!«
»Ich habe es vor vierzig Jahren gelesen«, sagte Rosa und schloss die Augen. »Hochroitzpointner ist aber ein Antisemit!«
»Ich sitz da nicht drauf. Für mich ist er ein Schleimscheißer.«
»Wird es nicht etwas viel? Werden drei Stücke sein, in denen du bist.«
»Ist lässig, Mama.« Inge Haller kam ins Zimmer. Karl wollte aufstehen, aber Haller sagte:
»Einen Augenblick nur, Herr Fraul.«
»Ich warte draußen«, sagte Karl und ging hinaus. Er schlenderte bis zur Teeküche vor, wieder zurück bis ans Ende des Flurs. Als Inge Haller aus Rosas Zimmer herauskam, marschierte er an ihr vorbei und wieder hinein. Rosa sah ihm lächelnd entgegen, hob ihren Zeigefinger, drohte mit ihm: »Bist du aber freundlich zu Frau Doktor Haller.«
Karl schwieg.
»Sie kann genauso wenig dafür, dass Margit gestorben ist, wie du.«
»Ich will nicht darüber reden.«
»Du musst nicht darüber reden. Ich verdanke Frau Doktor Haller viel. Mir ists unangenehm, dass du nicht wenigstens höflich –«
»Um was geht es in dem Roman?«, unterbrach Karl und nahm das Buch in die Hand, ließ einen Finger als Lesezeichen an der Stelle, wo es aufgeschlagen war. Rosa setzte sich auf, nahm es ihm aus der Hand.
»Es handelt vom Genozid an den Armeniern. Unter anderem.«
»Ach ja?
Weitere Kostenlose Bücher