Der Kalte
Dass du von Genoziden nicht genug bekommen kannst.«
»Werfel ist wegen dieses Romans zum Nationalheiligen der Armenier geworden«, sagte sie.
»Ich kenne nur den Jacobowsky. Mit Danny Kaye und Curd Jürgens. Netter Film. Gestern bei der Probe habe ich mindestens auf zehn verschiedene Arten den Satz probiert: Herr Direktor, wir leben in einem christlichen Staat.« Karl begann Rosa die diversen Tonfälle vorzutragen. Sie lachte. Er deutete auf das leere Nachbarbett. »Bist du jetzt allein im Zimmer?«
»Ja. Ist mir angenehm.«
»Also, bis übermorgen. Er kommt doch morgen?«
Sie nickte, er beugte sich zu ihr, küsste sie. Als er unten am Buffet vorüberging, vertrat ihm Guido Messerschmidt den Weg.
»Darf ich Sie einen Moment sprechen?«
»Hm. Was gibt's?«
»Wollen Sie vielleicht auf einen Kaffee …«
»Ich bin in Eile.«
»Vielleicht ein ander Mal?«
»Ein ander Mal. Wiedersehen.« Als er vor dem Ausgang stand, hielt er inne. Er drehte um und ging zum Buffet zurück, wo Messerschmidt an einem Tischchen stand. Er stellte sich dazu.
»Doch Kaffee?«
Karl nickte.
Den Nachtdienst verbrachte Inge Haller in ihrem Zimmerchen im fünfzehnten Stock. Sie hatte wie zumeist kardiologische Fachzeitschriften dabei, saß eingesunken in ihrem Lehnstuhl, die Beine auf einem Schemel davor. Durch das kleine Fenster sah sie auf den nächtlichen Septemberhimmel. Schwere Wolken, von den Lichtern Wiens angeleuchtet, krochen wie graue Nacktschnecken zum Firmament, gefolgt von schwärzeren. Um die Oberärztin war es still, aber auch in ihr hatte sich das Gefühlsschweigen
mehr und mehr ausgedehnt, bildete nach außen Kruste um Kruste, ein beweglicher, atemintensiver Panzer umschloss ihren schlanken Oberkörper. Sie legte die Zeitschrift weg, putzte sich die Zähne, ohne sich dabei im Spiegel anzublicken. Ein Lied aus ihrer Kindheit stieg in ihr hoch, wahre Freundschaft soll nicht wanken. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf, als könnte sie auf diese Weise die Melodie aus ihren Ohren loswerden, wusch sich das Gesicht und legte sich aufs Bett.
Nach Margits Tod war sie wieder in die Einsamkeit zurückgefallen, die sich schon vor der Bekanntschaft mit Margit lange Zeit als einzige und treue Begleiterin erwiesen hatte. Mit den Jahren wuchs die Versteinerung ihrer Oberfläche, unter welcher der geschmeidige Panzer wirkte. Lediglich durch Inges Gesichtsöffnungen konnte eindringen, was sie traurig, gleichgültig oder gelegentlich auch herzlich stimmte.
Sie lag auf dem Rücken, und die Müdigkeit kroch ihr in die Gelenke. Beim Wegdämmern meldete sich ihr Piepserl. Sie schwang sofort beide Beine auf den Boden und war schon bei der Tür und draußen. Nach zweieinhalb Stunden kam sie zurück. Ein Neunzigjähriger, der den ganzen Abend unruhig gewesen war, begann aus einem Hustanfall heraus vom Leben zu scheiden. Sein Gehuste wurde immer leiser, ging in ein Rasseln über. Haller gab ihm eine Injektion. Exitus. Formalitäten, Unterschriften. Nun lag sie wieder da. Es war ihr heiß, und die Müdigkeit war gewichen. Sie zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Sie schloss die Augen und begann Liebespaare zu beobacheten. Sie riss plötzlich eine Tür auf und ertappte ein Paar. Erschrocken schaute die junge Frau zu ihr hoch, rotohrig, keuchend. Des Mannes kräftiges Glied betupfte erst die eine, dann die andere Brustwarze. Sie sah den behaarten Rücken des
Mannes, hörte ein Flüstern, das Pärchen sah sie nun an, als würde es sie einladen; sie fasste sich an ihr Geschlecht, es wurde ihr in wachsender Spannung süß im Bauch, und Schauer jagten ihr über die Oberschenkel. Bevor sie kam, vergrub sie ihr Gesicht im Kissen. Danach verspürte sie eine quecksilbrige Bitterkeit, die Geruch und Geschmack zu beherrschen begann. Die Süße war im Körperschweiß wie aufgelöst. Sie sah auf die Uhr, viertel vier in der Früh. Inge setzte sich auf und weinte. So gings zum Morgen. Sie lag schlaflos.
Ihr fiel ein, dass Guido auch im Nachtdienst war. Sie stand auf, zog sich an und rief ihn an. Als er bei ihr eintrat, saß sie im Lehnstuhl, die Zeitschrift in der Hand, die Brille auf der Nasenspitze, sah über sie drüber zu ihm hin.
»Geschlafen?«, fragte er.
»Hm, hm.«
Aus der Thermosflasche schenkte sie ihm und sich Tee ein.
»Was machst du am Samstag?«, fragte Messerschmidt.
»Weiß noch nicht.«
»Ich hab Karten für die Phädra. Willst du?«
»Phädra? Aber ja.«
Guido sagte ihr, dass er Karl Fraul vier Freikarten abgeschnorrt
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