Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
Vom Netzwerk:
kennst fast alle.« Er sah sie an.
    »Das Bett ist sehr schmal«, sagte er. Dolly lachte und begann ihn auszuziehen.
     
    Abends musste Stefan die beiden Schwestern Schmelczer begrüßen, ebenso die Samuelis und Boaz' Freundin Sissy. Zusätzlich wurde ihm ein freundlicher Herr mit Pfeife vorgestellt, der Chefredakteur einer großen Zeitung. Später erschienen noch dessen Bruder und seine Frau.
    Und wieder kamen Boaz und Sissy gegenüber von Dolores
und Stefan zu sitzen. Ruth Schmelczer wandte sich an Stefan:
    »Nu, wie gefällt es Ihnen in Erez Israel?«
    »Gott, was fragst du so blöd, Ruthi. Der junge Mann ist doch soeben erst angekommen«, sagte Esthi Schmelczer und lachte auf.
    »Wie soll ich das wissen?« Ruth zuckte mit den Schultern, schaute sich Stefans Locken an. »Was für herrliche Locken.«
    Cilla kam dazu, begrüßte Stefan mit Wangenkuss. Der Seder begann.
     
    Am nächsten Tag, der Seder war für Stefan womöglich noch langweiliger gewesen als der vor einem Jahr in Wien, beschloss Dolly, ihm etwas von Jerusalem zu zeigen. Sie gingen aus dem Haus und wandten sich nach Norden und danach nach Osten. Ecke King George und Histadrut befand sich ein winziges Lokal, das sie betraten. Dolores begrüßte den kleinwüchsigen Besitzer Jakob Rothschild, der ihr unaufgefordert ein Glas Campari Soda brachte. Sie setzten sich nebeneinander an die Bar, Stefan trank auch einen Campari, während Dolly sich sehr gewandt, so schien es Stefan, mit Rothschild unterhielt.
    Stefan schaute sich im Lokal um. In einer der Ecken saßen drei Frauen, die miteinander Russisch sprachen. Daneben blätterte ein Herr eine Zeitung von hinten nach vorne.
    »Interessant, was mir Herr Rothschild alles erzählt hat«, sagte Dolly, nachdem sie das Lokal verlassen hatten.
    »Wieso er dir? Du hast doch dauernd auf ihn eingeredet.« 
    »Das kommt dir so vor, weil du noch kein Hebräisch kannst.«
    »Das lerne ich auch nicht. Mir reicht mein schlechtes Maturafranzösisch«, sagte Stefan.
    Sie hielten sich gegenseitig an den Hüften und schritten so durch die Straßen Westjerusalems, gelangten zur Ben Yehuda, als sie lautes Geschrei vernahmen. Leute liefen aus allen Richtungen auf einen Ort zu, wo eine Frau am Boden lag. Etliche hatten sich über sie gebeugt, während einige Meter entfernt ein junger Mann sich dem Zugriff kräftiger Männer, die ihn festhielten, zu entwinden suchte. Während sich zugleich einige um die Frau, die ein Messer im Hals stecken hatte, zu kümmern schienen, wurde der junge Mann von den Umstehenden beschimpft, bespuckt und auf den Kopf geschlagen. Dolores und Stefan blieben stehen.
    »Mein Gott«, flüsterte Dolores und legte ihr Gesicht auf Stefans Brust, »schon wieder so ein Messerattentat. Mitten bei uns. Mitten hier.«
    Inzwischen war die Polizei gekommen, und die Ambulanz fuhr vor. Zwei Männer sprangen aus dem Auto und liefen auf die Frau zu, ihnen hinterher humpelte ein dicklicher Arzt. Der Messerattentäter wurde aus dem Zugriff der Passanten befreit und hastig in den Polizeiwagen geworfen, und der fuhr sofort weg. Polizisten schwärmten aus und begannen Menschen einzusammeln, die als Zeugen fungieren sollten.
    Eine Tragbahre war plötzlich da, und die Frau wurde vorsichtig daraufgelegt und zum Rettungswagen geführt. Stefan sah ihr ins Gesicht, als sie vorbeigetragen wurde. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund stand offen, die Züge waren verzerrt, als wären sie beim Schreien zum Erstarren gebracht worden. Kinn und Schultern waren blutrot.
    Als die Ambulanz weg war, kamen Polizisten auf Dolores und Stefan zu. Dolores verneinte und kramte ihren Ausweis hervor, Stefan tat es ihr gleich.
    Sie kehrten in die Ussishkin Street zurück, und Dolores berichtete der Mutter und Nurith, was sie gesehen hatte. Cilla
schlug die Hände über dem Kopf zusammen, rief: »Ernstl«, bis ihr Mann aus dem oberen Stockwerk herunterkam und aufgeregt ins Benehmen gesetzt wurde.
    »Dafür sind wir aus Wien raus, damit wir hier von den Arabern abgestochen werden?«, sagte Cilla. Ernst sah sie mit verschlossenem Gesicht an.
    »Nicht vor unserem Gast«, sagte er leise und ging mit seiner Frau hinauf.
    Stefan schwieg, hielt Dolly, die zu weinen begonnen hatte, in seinen Armen. Noch zwei, drei solche Anschläge, dachte er, und ich hab sie wieder in Wien.
    »Das täte denen so passen«, sagte Dolly, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Deswegen gehen wir nicht wieder weg. Nicht wegen denen. Komm. Ich will auf mein Zimmer.«
     
    Inge

Weitere Kostenlose Bücher