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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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Haller musste ihre Träume und Phantasien hinter ihren immer härter werdenden Gesichtszügen versperren, und sie konnte das gut. Am Abend nach Dienstschluss hatte sie sich mit Guido verabredet. Sie wollten essen gehen, denn Messerschmidt feierte heute seinen neununddreißigsten Geburtstag. Sie gingen ins Schnattl, Inge hatte ein kleines Geschenk dabei, ein Buch über die Geschichte der Chöre in Deutschland. Als sie sich nach seinem »Schützling« erkundigte, und sie erkundigte sich seit kurzem ständig nach seinem Schützling, antwortete er, Steff sei in Israel bei seiner gegenwärtig Zukünftigen, er komme übermorgen zurück. Inzwischen habe er, Guido, wieder mit dem Chorleiter geredet. Wenn der junge Keyntz passt, passt er, hätte Schurin gesagt, und ihm sei es egal, ob er der Sohn vom Keyntz sei oder von der Callas. Welche Stimmlage er hätte? Er tippe auf Bariton wie der Vater. Das sei schade, hätte Schurin gesagt. Du weißt, wir brauchen Tenöre.
    »Will er überhaupt in den Singverein?«, fragte Inge.
    »Ich hoffe. Mir scheint, er will alles und gar nix. Seine Matura bereitet er mit links vor. In Französisch macht er was über Sartre, er hat mir von den Fliegen erzählt, plötzlich auch von den Eingeschlossenen.«
    »Ein schlummerndes Genie, vielleicht«, sagte Inge und sah nachdenklich in Guidos Gesicht.
    »Du glaubst?«
    »Renate hat das unlängst über ihn zu mir gesagt.«
    »Na ja, die Frau Mama wird Derartiges wohl annehmen dürfen.«
    »Sie wirkte dabei aber ziemlich beunruhigt.«
    »Du hast dich angefreundet mit ihr?«
    »Angefreundet ist das falsche Wort. Ich habe mich ihr beigegeben.« Guido, der eben die Gabel zum Mund führte, stockte, legte sie auf den Teller.
    »Was soll denn das heißen, entschuldige.«
    »Ist egal. Renate möchte mit dem Staatsoperndirektor Nürnberger reden. Stefan weiß nichts davon. Sags ihm nicht.«
    Messerschmidt aß weiter.
    »Wann fährst du nach London zu deinen Kardiologen?«
    »Gar nicht. Ich hab es abgesagt. Kennst du noch die Christiane Kalteisen?«
    »Die hast du mir doch nie vorgestellt. Was ist mit der?«
    »Sie hat inzwischen ihren HNO gemacht und sich auf die Glottis spezialisiert. Sie könnte unserem Stefan in den Schlund gucken. Ach so? Willst du wen kennenlernen? Soll ich sie dir vorstellen?«
    Guido schwieg.
    »Du wirst schon wieder rot.«
    »Teilst du mir mit«, sagte er schließlich, »was Renate Keyntz beim Nürnberger erreicht hat?«
    »Ich sage dir alles.« Sie winkte dem Ober. »Was für italienischen Rotwein haben Sie?«
    »Darf ich die Weinkarte bringen?«
    »Bringen Sie eine Flasche Brunello.«
    »Sehr wohl.«
    Sie leerten die Flasche und staffierten dabei Stefans Lebensweg mit Zukunft aus.
     
    Am kommenden Tag zu Mittag hatte Ernst Segal seine Gäste ins King David Hotel zum Essen eingeladen. Das Messerattentat und seine Folgen beherrschten den Mittagstisch vollständig. Boaz Samueli tat sich hervor, indem er unter den missbilligenden Blicken vor allem der Schwestern Schmelczer Israels Regierung mitverantwortlich für die wieder wachsende Terrorbereitschaft mancher Palästinenser machte. Bekannte Argumente wurden wie Pingpongbälle an Stefans Ohren und Nase hin und her geschossen. Boaz wurde schließlich von Esthi zum Arafatfreund ernannt. Boaz zeigte erregt auf Ernst Segal, der sich bekanntlich weigerte, in den Indianergebieten Bauaufträge anzunehmen. Segal verbat sich den Ausdruck Indianergebiete für das Westjordanland, meinte aber, die ungebremste Besiedelung von »Judäa und Samaria« bereite ihm Sorgen und werde wohl einst noch zu einem Bürgerkrieg führen.
    »Du redest Tinnef«, schrie Esther und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Nie im Leben werden hier Juden gegen Juden kämpfen.«
    »Gabs alles schon«, sagte überraschend Sissy, als ob dieser Streit, denn es wurde immer mehr ein Streit, keine innerjüdische Angelegenheit wäre. »Nachzulesen im Alten Testament. Kriege ohne Ende.«
    Alle schauten sie an, Boaz lächelte und wiegte seinen Kopf,
Sissy zuckte mit den Schultern. »Wenn ich das einmal bemerken darf.«
    Bevor sich nun Esther auf die Schickse werfen konnte, erschien John Blum mit seiner Pfeife im Mund, trat an den Tisch.
    »Ob bei mir in der Jerusalem Post, ob hier, ob auf dem Karmel, ob auf dem Suq, überall reden die Leute das Gleiche. Gestatten?«
    Er holte sich einen Stuhl, zwängte ihn zwischen Stefan und Dolores und setzte sich. Esther Schmelczer holte Atem, biss an einem Satz herum, den sie zu Sissy hinüber

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