Der Kalte
heftig arbeitenden Adamsapfel. Stefan rang nach Luft, er dachte, jetzt wäre es doch gut gewesen, wenn Guido unten säße, der hätte dem Chorleiter erklären können.
»Ich habe«, begann er, »ich bin … es ist mir, entschuldigen Sie, ich kann jetzt offenbar …«
Schmuddermayr stand auf, ging ums Klavier herum und von hinten auf Stefan zu, hieb ihm in den Rücken, ging zum Chorleiter, beugte sich vor und sagte ihm etwas ins Ohr. Es war still. Stefan wollte davongehen.
»Reichen Ihnen zehn Minuten Pause?«, fragte Schurin, erhob sich. »Kann jemand ihm noch ein Wasser bringen?«
Stefan ging auf die Toilette, riegelte ab, setzte sich auf die Brille und versuchte die Flauheit, die vom Magen in den Hals steigen wollte, unten zu halten. Dolores, dachte es in ihm, ich bin dein dummes Versagerlein. Papa, in deinen Fußstapfen kann ich herumirren, ja irren, ich bin irre, ich bin deppat, ach was, ich gehe halt, ich verschwinde. Sein Atem wurde ruhig. Nach einer Viertelstunde war er bereit und sang das Wirtshaus mit hoher Wortdeutlichkeit und ohne Vibrato. Schurin verlangte unbewegten Gesichtes her
nach, Stefan möge die Tonleiter rauf und runter singen. Er mochte es in Dur und Moll hören. Er möge Intervalle machen. Schließlich sollte er noch oktavieren.
»Bariton?«, fragte Schurin. »Sie sind Bariton? Oder hören wir da noch etwas anderes? Rudi, gib ihm das D. Und weiter.«
Stefan sang die Töne nach.
Schurian sah zu Schmuddermayr.
»Mir scheint, wir haben einen Tenor.« In seinen Augen glitzerte es.
»Ein Tenorito.«
Schmuddermayr nickte.
»Und ob«, sagte er.
Stefan hob die Arme. »Ich habe den Bariton von Vater geerbt.«
»Ihr Herr Vater«, sagte Schmuddermayr, »hatte eine hohe Tessitura als Bariton. Sie sind noch ein Stückerl hinaufgerutscht. Ich bin sicher, Alex, das ist ein Tenor, oder besser gesagt, es wird einer.«
»Gebt ihm den Auszug zum Brahmsrequiem. Probenbeginn siebter September, okay?«
Stefan schaute hilfesuchend zu Schmuddermayr. Der hatte sich vom Klavier erhoben, sich in seine Ecke begeben und nahm seine Pfeife in den Mund.
»Her mit Ihnen, Keyntz junior.«
Er ging hinaus, um die Pfeife anzustecken.
24.
Im Juli war Rosinger nicht in Wien. Er teilte Fraul mit, dass seine Schwester ihn gebeten hatte, mit ihr auf Urlaub zu fahren. Rosinger hatte darauf zwar keine Lust, aber sie
konnte ihn überreden. Anfang August trafen sich Rosinger und Fraul wieder beim Praterer, aßen und gingen los. Fraul schlug für Rosinger überraschend den Weg über die Jesuitenwiese parallel zur Rotundenallee ein. Es war heiß. Rosinger musste sein Sakko ausziehen und trug es über der Schulter.
»Wie wars in Krumpendorf?«, fragte Fraul. »Jupp Toplitzer getroffen?«
»Sie werden lachen, ja«, antwortete Rosinger. »Agnes hatte dem neuen Führer vorher geschrieben. Sie wollte, dass ich mit ihr komme. Im Wirtshaus sind ein paar Freunde von ihr gesessen, deretwegen sie überhaupt nach Kärnten wollte. Einige kannte ich eh von den Gelagen, die sie in Wien veranstaltet hatte. Auf einmal ist der Jupp hereingekommen, hat der Agnes die Wangen abgebusselt. Sie hat mich ihm vorgestellt, er hat mich gleich geduzt, meinen Namen wiederholt und mit den Augen gezwinkert. Gerhart Mauss, der mit seinem Sohn Gernot auch dabei gewesen war, wird dem Jupp von mir erzählt haben. Mir war es peinlich, aber was sollte ich tun? Jupp war sehr freundlich, hat sich nach meiner Gesundheit erkundigt und gemeint, wenn ich was brauche, er ist für mich da.«
»Beeindruckend«, sagte Fraul.
Rosinger schwieg. Als sie bei der Toilettenanlage vorüberkamen, aus der es etwas heraus roch, blieb Fraul stehen.
»Lassen wir den Toplitzer. Los, Rosinger. Ihre heutige Geschichte!«
Rosinger nickte, und sie gingen weiter.
»Mit Stefan Baretzki habe ich mich eigentlich immer gut verstanden. Er hat ständig gesoffen, und dann war er ein Vieh. Einmal ist er auf der Lagerstraße in Auschwitz einem begegnet, der nicht schnell genug die Mütze abgenommen hatte. Er ist auf ihn hin und hat ihm eine Ohrfeige
heruntergehauen. Der Häftling hat seine Schaufel fallen gelassen und seine Hand vors Gesicht gehalten. Da hat der Stefan ihn angebrüllt: ›Was? Du willst einen SS -Mann schlagen? Du?‹ Dann hat er ihn zu verprügeln begonnen. Ich wollte zu ihm hin, aber es ging so schnell, und man konnte sich nicht einmischen. Der Häftling lag auf dem Boden, Stefan hat auf ihn eingetreten, er war rot im Gesicht und wurde immer wütender. Der Häftling,
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