Der Kalte
der beim Kommando Straßenreinigung war, wälzte sich zusammengekrümmt und versuchte den Tritten zu entgehen, rollte über seine Schaufel, sodass der Stiel sich aufstellte. Auf das hinauf ergriff Stefan die Schaufel, legte den Stiel über den Hals des Opfers und wippte so lange, bis der arme Kerl tot war.«
»Sie wissen, dass ich diese Geschichte kennen muss.«
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich auch in der Nähe war, es in Frankfurt aber nicht erzählt habe. Doch Baretzki konnte auch anders sein. Er wollte beispielsweise Wasser organisieren für Mexiko, dort waren die Birkenauer Zustände am allerärgsten zu der Zeit. Er kam abends zu mir, war zwar betrunken, aber ganz traurig. Ich habe ihn gefragt, was los ist. Er hatte nichts organisieren dürfen. Der Lagerführer Schwarzhuber hatte ihn angebrüllt und ihm gesagt: ›Begreifen Sie endlich, dass in Mexiko nur Juden sind.‹ Dann hat Baretzki zu weinen begonnen und hat immer wieder gesagt: ›Das ist doch alles ein Wahnsinn.‹«
Die beiden überquerten die Hauptallee und gingen auf der anderen Seite in den Wurstelprater hinein. Sie mussten warten, denn die Liliputbahn fuhr vorbei. Das Schweizerhaus war vollgepfropft mit Menschen, die Ober schleppten auf den Tabletts die Krügel Budweiser herbei. Gegenüber das Hippodrom, dort gingen traurige Gäule seit Jahrzehnten im Kreis.
»Sie hatten wieder einmal die Muselmänner zusammengeklaubt, wo sie sie vorgefunden hatten, und auf den Lastwagen geschmissen«, sagte Fraul. »Von der Lagerstraße aufgesammelt, von den Latrinen heruntergerissen, dazu die Selektionierten vom Block sieben, allesamt kaum mehr Lebende, die nun auf dem Elkawe ein Haufen waren. Ich war bei Schurl, der als Dachdecker arbeitete, ein Mitglied der Kampfgruppe Auschwitz, ein Bayer. Wir hatten einen guten Ausblick auf unser Birkenau und schauten auf den Haufen hinunter. Wir warteten mit unserem Gespräch, bis der Lkw mit der schweigenden Muselmannfracht weggefahren war. Ich konnte erkennen, dass ein alter Mann den eitrigen, grindigen Kopf seines Sohnes oder jedenfalls eines jungen Halbtoten in den Händen hielt und an seine Brust drückte. Als der Wagen losfuhr, schrie dieser alte Mann auf einmal: ›Schmah Jisrael adonai elohenu adonai echad.‹ Plötzlich richteten sich in dem Haufen Köpfe hoch, Arme streckten sich zum Himmel, und andere und immer mehr der Muselmänner, die eigentlich keine Kraft mehr hatten, zu gehen oder zu sitzen oder die Arme zu heben, keine Kraft, um volle Töne zu bilden, riefen das Schmah Jisrael. Der Lkw fuhr den Weg hinauf zum Krematorium zwei, und wir hörten das Schmah die ganze Zeit. Schurl und ich sahen uns an, dann besprachen wir, was zu besprechen war.«
»Schlimm«, sagte Rosinger.
Fraul blieb vor dem Gasthaus Zum englischen Reiter stehen.
»Trinken wir ein Bier!«
Sie nahmen im Gastgarten Platz und tranken ihr Seitl in einem Zug.
Judith Zischka hielt ihre Schwangerschaft vor sich und den anderen geheim. Da sie nicht wusste, ob das Kind von Dauendin oder doch von Apolloner war, ging sie mit der ausbleibenden Regel so um, als wäre sie gekommen. Zugleich ertappte sie sich dabei, wie sie vor dem Einschlafen an das Kleine in ihr drin dachte, und freute sich. Sie hatte sich nach der Nacht mit Dauendin von Roman sukzessive zurückgezogen, ohne dass dies dem Apolloner sonderlich auffiel. Auch Dauendin traf sie vorerst nicht mehr, obwohl Felix hin und wieder versuchte, mit ihr in Kontakt zu treten.
Im März teilte sie Roman mit, dass sie im vierten Monat schwanger sei und das Kind entweder von ihm oder von einem anderen sei. Apolloner reagierte wenig freudvoll, sodass Judith die Liebesbeziehung zu ihm endgültig abbrach.
In eine der letzten Vorstellungen des Bernhardi vor dem Sommer ging sie hinein. Sie hatte Karten für die dritte Reihe und sah dem Dauendin auf den Mund. Gegen Ende des ersten Aktes bemerkte er sie und wollte in der Pause Kontakt zu ihr aufnehmen, er durchstreifte zum Erstaunen des Publikums die Buffets des Akademietheaters, fand sie aber nicht, da sie auf ihrem Sitzplatz geblieben war. Nach der Vorstellung stellte sie sich zum Bühnentürl und erwartete ihn. Er kam fröhlichen Gesichts auf sie zu, bemerkte ihren Bauch und stutzte. Im Café Museum erklärte sie ihm, dass sie also dieses Kind erwarte, und es sei entweder von Roman Apolloner oder von ihm. Zu ihrem Erstaunen stand Dauendin auf, umgriff Judiths Taille, riss sie aus ihrem Sitz heraus und begann mit ihr umherzuwirbeln. Sie
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