Der Kalte
plötzlich skelettiert. Er fuhr hoch, die Feder vibrierte, Rosa hob ihren Blick vom Buch und lächelte, sah Edmund noch einen Moment lang an, las weiter. Sie sieht mir meine Anspannung an, dachte er. Es macht ihr womöglich Sorgen. Davon belästigt, ging er häufig unter einem Vorwand oder auch wortlos hinunter auf die Straße.
Zu oft fuhr er zum Zentralfriedhof. Robert Heller musste schon mürbe sein von seinen Besuchen. Hast du nichts Besseres zu tun, Bub, würde Bobby mit Aschenmund heraufrufen.
Kichernd ging er über die Salztorbrücke, stand vor der Ruprechtskirche, überlegte, wieder mal ins Korb zu gehen, doch ein Übelkeitsanflug ließ ihn in der Rotenturmstraße anhalten. Schließlich wanderte er zum Schottentor, stieg in den Dreiundvierziger und fuhr nach Neuwaldegg. Er hatte sich eine Broschüre vom Freiheitskämpferbund mitgenommen, die dieser im Vorfeld zum Bedenkjahr herausgegeben hatte. Nachdem er sich bei der Endstation auf eine Bank gesetzt hatte, schlug er seinen Artikel auf, der voll von Druckfehlern war. Neben ihm ließ sich ein Herr nieder, der den gleichen Hut aufhatte wie er selbst. Merkwürdig, dachte Fraul, Monate habe ich keinen Hut mehr aufgesetzt, grad heute erstmals wieder. Er betrachtete den Hut des anderen. Der drehte sich zu ihm.
»Da sitzen wir jetzt da, im Herbst unseres Lebens, und denken an denselben Menschen, oder?«
Fraul zuckte beim Klang der Stimme zusammen.
»Sind Sie der Sohn?«
»Ich bin der Bruder. Sie waren neunzehnsechsundvierzig bei mir und meiner Frau.«
Fraul stand auf, wusste, dass niemand neben ihm gesessen hatte, schaute aber dennoch auf die verlassene Bank zurück. Er überlegte, ob er Richtung Hameau weitergehen sollte, spürte wiederum eine Übelkeit, kehrte um, wartete auf die Straßenbahn und fuhr zum Schottentor zurück. Niederlagen, dachte er. Es sind Niederlagen. Dieses zerfahrene Umherirren, dieses Auffalten von Bildern aus der Irretei. Wie hat der Bruder von Wirths geheißen, fragte er sich. Er stand im Jonasreindl, ging auf die Toilette. Danach fand er eine Telefonzelle, rief Brauneis an und fuhr zu ihm in den Reumannhof.
Hinter dem Gürtel und parallel zu ihm entstieg Mauss dem Taxi und marschierte die Malfattigasse entlang. Er war für fünf angekündigt, dennoch ging er einige Mal am Haustor vorbei. Halbwüchsige standen am Eck vor einem Lokal und begannen sich gegenseitig anzurempeln. Eine junge Frau sah ihnen dabei zu und warf ihre langen Haare nach jedem Rempler nach hinten. Zwei von den Jugendlichen beließen es nicht bei der Rempelei; sie stießen und schlugen aufeinander ein. Die Frau rannte ins Gasthaus, während sich die Jugendlichen auf dem Boden wälzten. Mauss hörte auf die Schlaggeräusche. Er hatte Lust, die Raufenden mit einigen gezielten Stiefeltritten auseinanderzujagen. Allerdings hatte er keine Stiefel an und war, auch wenn es ihm schwerfiel, sich das zuzugeben, mit seinen siebzig Jahren nicht sicher, heil aus so einer Einmischung herauszukom
men. Er lehnte sich an die Hausmauer und nickte, als er sah, dass einer der beiden Oberhand gewann, auf dem anderen draufsaß und ihm teils mit den Fäusten, teils mit den Handkanten ins Gesicht drosch. Der Untenliegende stieß lauter werdende Heulschreie aus. Aus dem Wirtshaus waren Leute herausgelaufen gekommen, und zwei von ihnen rissen den Prügelnden von seinem Widersacher herunter, stellten ihn auf und begannen ihrerseits an ihm herumzustoßen. Die junge Frau beugte sich über den Verprügelten, der spuckte ihr seinen blutverschmierten Speichel ins Gesicht und nannte sie gschissene Hur.
Mauss steckte sich eine Zigarette an, drehte dem Geschehen den Rücken zu und verschwand in Eggers Haustor.
Anton Egger, nun Max Joseph Hausmann, empfing ihn mit einer legeren Geste, führte ihn in sein winziges Wohnzimmer und bot ihm Kaffee und Obstler an. Seine Frau kam aus der Küche, begrüßte Mauss und ging zurück.
»Jahrelang hab ich mich aus dem Netzwerk herausgehalten, Jahrzehnte, ihr wisst warum. Aber ich war freilich immer bei euch und mit euch. Es ist nach wie vor unsere Sache. Jetzt brauche ich euch und kann nicht sagen, was ich für euch tun kann«, sagte Egger, indem er gleich aufs Wesentliche kam. »Der Lebensart hat nicht aufgegeben. Er wird mir was Neues anhängen.«
»Du meinst Mauthausen in den letzten beiden Monaten?«, fragte Mauss und hob die Mokkatasse zu den Lippen. Egger nickte.
»Ich kenne jemanden, der nahe an einigen Juden ist. Den kann ich aufwecken und
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