Der Kalte
»Gehen Sie schon!« Rosinger gab ihm die Hand und ging in den böigen Wind hinaus. Fraul stand auf, eilte zur Eingangstür und sah dem Ro
singer nach, der mit kleinen Schritten und gesenktem Kopf zur Hauptallee trappelte, sie überquerte und sich hinter den Bäumen Richtung Konstantinhügel entfernte.
Karin Loschewitz war noch in Paris mit dem Schneiden eines Films beschäftigt, als Hirschfeld wieder in Hamburg eintraf. Der Film handelte von netten Leuten, die ihre Liebespartner gemeuchelt hatten. Der Filmemacher Alfred Wolf, ein Wiener Jude, der als Gymnasiast neunzehnachtunddreißig verjagt wurde, neunzehnfünfundvierzig in der Uniform der amerikanischen Armee nach Europa zurückkam und sich nach Kriegsende in Paris niederließ, hatte die Erlaubnis bekommen, diverse Häftlinge, welche wegen Mordes verurteilt worden waren, in ihren jeweiligen Gefängnissen zu besuchen. Darunter war auch eine berühmte Schauspielerin, die ihren um Jahre jüngeren Liebhaber erschoss, weil der ihr zuvor das Herz gebrochen hatte. Diese Blondine ging in ihrer Zelle auf und ab, und Karin ließ sie am Schneidetisch hin und her laufen, stoppte, schnitt, klebte, fügte. Wolf, mit der Pfeife im Mund, saß daneben und betrachtete die Mörderin auf dem Monitor mit traurigen Augen. Karins Mitleid mit ihr hielt sich allerdings in Grenzen. Aus den Diskussionen, die sie mit Wolf führte, entstand nach und nach der Feinschnitt. Wolf mochte auf Karin nicht verzichten, hielt sie bis zum letzten Filmkader in Paris fest, sodass Hirschfeld nichts übrig blieb, als täglich mit ihr zu telefonieren, sich über Fredi zu ärgern, der keinen Schritt und Schnitt ohne sie machen mochte. Die Mischung aus Sehnsucht und Langeweile hielt Hirschfeld in Karins Wohnung am Grindelberg fest. Er kam allerdings mit seiner Novelle, die sich mehr und mehr zum Roman auswuchs, zügig voran. Abends ging er in eine der Kneipen im Grindelviertel, trank sich in die Nacht, speicherte, wäh
rend er allein an der Theke stand, die Begierde, die beim Anblick der Frauen in ihm hochstieg, im Brustkasten, um sie teils an die Sätze und Satzreihen im Manuskript abzugeben, teils in der Morgenfrüh mit kruden Phantasien durchmischt auszustoßen. Am Telefon versicherte er Karin, wie sehr er sich für sie aufsparte und dass es höchste Zeit sei, sie wieder in den Armen zu haben. Schließlich unterbrach er seine Arbeit, fuhr nach Paris und wurde in Fredi Wolfs Film involviert. Sie saßen Nächte im Büro in der rue G. Bizet zu dritt beisammen. Wolf begann sich für die Gedichte Hirschfelds zu interessieren und ließ sich aus dem Romanprojekt vorlesen, machte ihm Komplimente und schickte ihn zum Weiterschreiben nach Hamburg zurück.
Endlich entschloss sich Hirschfeld, Maier-Loschewitz das Drittel vom Romanganzen, das in den letzten sechs Monaten entstanden war, lesen zu lassen. Loschewitz las es in einer Nacht durch, dreimal der Reihe nach, wie er sagte, und von hinten und mit zahlreichen Anmerkungen, von denen, wie er hinzufügte, aber erst später die Rede sein werde.
»Der zweite Eindruck war stärker als der erste, der dritte stärker als der zweite. Das ist sehr gut«, sagte er, als Hirschfeld ihm im Verlag gegenübersaß. »Das Einzige, was ich wirklich an Ihrem Text auszusetzen hätte, ist, dass ich weiterlesen möchte und wissen will, wie Sie die Fäden verknüpfen. Der Erzählzopf, der mir bis dato vorliegt, stimmt mich recht zuversichtlich.«
»Ich bin und bleibe Lyriker«, antwortete ihm Hirschfeld. »Das alles mache ich bloß Ihnen und dem Verleger zuliebe. Haben Sie ihm den Kladderadatsch zugemutet?«
»Ich habe berichtet.«
In diesem Augenblick klopfte es, und der Verleger trat ein. Als er Hirschfeld sah, schnellten seine buschigen Augen
brauen hoch. Hirschfeld hatte sich erhoben, neigte zur Begrüßung den Kopf.
»Ich höre das Allerbeste von Ihrem Manuskript«, dröhnte Karlsen, »und ich bin sehr gespannt.«
Er nahm Hirschfelds Hand, pumpte auf und ab, schlug ihm auf die rechte Schulter. Dann warf er ein Kuvert auf den Schreibtisch von Maier-Loschewitz.
»Hätten Sie später eine Sekunde Zeit?«
»Ich kann –«
»Nachher, es eilt nicht.« Er zeigte Hirschfeld den erhobenen Handteller zum Gruß und ging.
Hirschfeld setzte sich und kratzte sich an der Schulter.
»Was war denn das?«, murmelte er.
Maier-Loschewitz lächelte. »Ritterschlag nach Art des Hauses.«
»Sehen Sie«, rief Hirschfeld maulig, »zwo Lyrikbände genügen nicht zur Anerkennung. Kaum
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