Der Kalte
gewünscht«, ließ sich Nürnberger vernehmen. »Herr Keyntz, guten Tag.«
»Guten Tag.«
Stefan drehte sich zum Pianisten.
»Ich ändere die Reihenfolge. Erst Schubert, dann Flohlied, am Schluss Don Giovanni.« Der Pianist grinste und nickte.
»Okay«, sagte Nürnberger.
Stefan sang die beiden Schubertlieder herunter, unbekümmert und mit lächelndem Gesicht, das teilweise nicht zum Text passte. Beim Flohlied sprang er etwas herum, wurde zu schnell, unterbrach und begann von Neuem.
Nürnberger und Kammerlander wechselten Blicke, Höppner klatschte nach dem Flohlied, sodass sich Nürnberger zu ihm umdrehte und die Finger auf die Lippen legte.
»Ich möchte noch etwas versuchen«, sagte Stefan. »Im Wiener Singverein hat mich der Chorleiter einen Tenorito genannt, obwohl ich doch ein hoher Bariton bin.«
Er wandte sich an den Pianisten. »Ganz unten.«
Der Pianist fischte die Partitur aus dem Notenstapel, stellte sie auf und sagte: »Aha. Soso. Probieren wir es halt.«
»Reicht es uns nicht?«, fragte Nürnberger und drehte sich wieder zu Höppner. Kammerlander flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Soll ich noch?«, rief Stefan und breitete die Arme aus. Nürnberger winkte mit der Hand ab, dann nickte er doch. Stefan schaute zum Pianisten und begann.
»La fleur que tu m'avais jetée«, sang er, versang sich gegen Schluss und brach ab.
»Danke«, sagte Nürnberger, erhob sich, ging aus der Sitzreihe heraus und verließ den Saal. Höppner applaudierte wiederum.
»Das meinen Sie ironisch«, sagte Stefan zu Höppner und zuckte mit den Achseln.
»Ich? I wo. Sauber, sauber. Aber bitte, ich bin nicht der Nürnberger.« Er lachte, stand auf und kam nach vorne. Kammerlander sah sich verwirrt um, eilte hinaus, kam nach einer schwachen Minute zurück und rief Stefan ins Direktionsbüro.
Stefan Keyntz nahm im Vorzimmer neben der Südkoreanerin Platz, betrachtete sie von der Seite. Sie sah mit verschlossenem Gesicht auf die Wand gegenüber, wurde schließlich zum Direktor gebeten, erschien nach kurzer Zeit mit Tränen in den Augen, flüsterte »Goodbye« und ging.
Als Stefan vor Nürnberger stand, ging dieser um seinen Schreibtisch herum.
»Passabel, junger Keyntz.« Er legte ihm die Hände auf die Schulter. »Gutes Material, Tenorito. Sie machen eine Gesangsausbildung?«
»Ab Herbst.«
»Zufriedenstellend. Nächsten Juni sehen wir uns wieder. Das heißt, kommen Sie doch gelegentlich vorher schon bei mir vorbei. Auf Wiedersehen.«
Vor der Oper warteten Stefans Mutter und Helen.
»Ich glaube, ich werde Opernsänger«, sagte er. Seine Mutter umarmte ihn, fuhr ihm übers Haar.
Er machte sich los.
»Gehen wir ins Café Mozart.« Er hängte sich bei beiden Frauen ein, und sie marschierten zur Albertina.
»Was Margit dazu gesagt hätte, Mama?«
37.
Raimund Muthesius hatte das Stück VOM BALKON wieder und wieder überarbeitet, nun saß er Schönn im Direktionszimmer des Burgtheaters gegenüber, zusammen
gezwängt vor dem Schreibtisch, hielt sich den Bauch und atmete schwer. Schönn, der die neueste Fassung durchgesehen und mit Scherfele eine Nacht lang durchgekaut hatte, blätterte im Manuskript, während die Sekretärin ein Glas Wasser hereinbrachte und Muthesius reichte. Der nahm zwei Tabletten ein, leerte das Glas mit kleinen Schlucken, schaute hiebei aufmerksam ins Gesicht des Direktors.
»Eine kolomassive Veränderung, das ist ja fast ein andres Stück«, sagte Schönn, nachdem das leere Glas fortgetragen worden war und die beiden wieder allein waren. Muthesius irritierte der Schreibtisch, hinter dem Schönn hockte, als sei er ein fremder und dem Dichter vorgesetzter Widersacher. Folglich erhob er sich, griff nach dem Manuskript und verfügte sich zur Sitzgruppe neben dem Fenster. Er setzte sich in einen der vier Stühle und begann nach den Anmerkungen zu blättern, die in blauer Farbe von Scherfele und in roter von Schönn eingetragen worden waren. Schönn blieb hinter dem Schreibtisch sitzen und blickte von dort mit verschlossenem Gesicht auf Muthesius. Er fühlte sich unsicher wie zumeist in Gegenwart von Raimund, versuchte es zu überspielen, lächelte und begann leise sein Schubertmotiv zu pfeifen. Muthesius lachte laut auf, erhob sich, um das Gemecker bequemer aus dem Körper zu schaffen, sein Kopf lief rot an, sodass Schönn nicht sicher war, ob dem Gelächter nicht alsogleich einer der berüchtigten Wutausbrüche folgen würde. Es klopfte, und Rüdiger Scherfele erschien mit Mappen unter dem Arm.
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