Der Kalte
Er begrüßte Muthesius mit einer Verbeugung.
»Fabelhaft«, sagte Scherfele. »Die Geigerin Alberta ist nun endgültig zur Hauptrolle geworden. Eine Haushälterin statt der halb wahnsinnigen Mutter, der Bogen zu neunzehnachtunddreißig. Der Vater, er sollte aber nicht Albert heißen, schweigt im ganzen Schlussteil. Er ist mit seiner Toch
ter Alberta – das finde ich etwas albern – zum Bruder nach Wien zurückgekommen aus dem Exillondon und hält sein Maul, abgesehen von Knurrtönen, sodass Alberta Resonanz und Ausdruck dieses Schweigens verkörpert und beseelt. Fabelhaft.«
»Bombenrolle für Astrid«, murmelte Schönn.
»Hält der neunte November?«, fragte Muthesius.
»Ich lass die Bombe früher platzen. Schaut nach dem zehnten Oktober aus. Ohnedies besser. Dementsprechend habe ich schon mit Astrid telefoniert und sie gebeten zurückzukommen.«
»Wieso, war sie denn weg?«
»Sie kommt zurück, aber sie hat ihre Kündigung noch nicht zurückgenommen.«
»Was soll das heißen? Kein Stück ohne Astrid von Gehlen als Alberta.«
»Oh doch«, sagte Schönn und zeigte mit der Hand auf den Kasten am anderen Ende des Raums. »Im Vertrag steht nichts von der Gehlen. Aber«, Schönn erhob die Stimme, um dem drohenden Gebrüll des Dichters zuvorzukommen, »ich werde sie schon bekneten, lass das mal meine Sorge sein. Sie wird hin und weg sein, wenn sie das Stück gelesen hat.«
»Was?«, schrie Muthesius, »sie ist nicht unter Vertrag, kennt den Scheiß nicht, und du willst im Oktober heraus?«
»Ich bin hier der Direktor, Herr Muthesius.«
»Mein Vertrag mit der Scheißburg ist mir powidl.« Muthesius stand auf und ging auf die Tür zu.
»Lass das Stück da, Raimund.«
Muthesius drehte sich um, sah die beiden Männer an, sein Blick wurde lauernd, er begann zu husten, hielt sich dabei das Manuskript vor den Mund, warf es dann auf Schönns Schreibtisch.
»An dieser Version ändere ich kein Komma mehr«, sagte er. »Am zehnten Oktober ist Premiere, die Gehlen spielt die Alberta, der Dauendin den Hubert, alles andere ist dein Bier. Gehen wir essen?« Und Muthesius ging, ohne eine Antwort abzuwarten.
Am selben Abend stand Schönn vor der Eingangstür von Astrids Wohnung und läutete. Sie öffnete, ließ ihn eintreten, nahm das Manuskript entgegen, bot ihm Kaffee an. Schönn lehnte ab. In seiner Gegenwart las sie das Stück. Er sah an ihr vorbei auf die Reproduktion eines Modiglianiaktes. Er dachte an seine tote Erna, und ein Knödel bildete sich in seinem Hals. Als Astrid fertiggelesen hatte, lehnte sie sich zurück und atmete durch.
»Das muss ich machen«, sagte sie, stand auf, setzte sich neben Dietger. Er streichelte ihr übers Haar.
»Und Karl?«, fragte sie plötzlich.
»Kein Fraul.«
Stefan Keyntz studierte Gesang bei Pius Höppner und Stella Cigorny. Sie begrüßte ihn kühl, als wäre sie nicht bei Margits Begräbnis gewesen. Er dachte an die Carmen mit dem Kreuz auf ihrem Dekolleté und lugte unter den Wimpern auf ihren Busen. Ende Oktober tauschten er und seine Mutter die Wohnungen. In der Schleifmühle war Platz, und so bekam er den gewünschten Steinwayflügel. Er übte an der Akademie, wie man die Hochschule für Musik und darstellende Kunst immer noch nannte und an der er zusätzlich Klavier und klassische Gitarre inskribiert hatte, er übte daheim, er übte und übte. Helen empfahl ihm ihre ehemalige Klavierlehrerin, er kam rasch voran, war in den Musiken wie versunken. Die letzten beiden Briefe von Dolores ließ er unbeantwortet.
Als er und Helen nach Mondscheinsonate und Blumen
arie, die er nun doch bewältigte, auf dem Sofa saßen und zu schmusen begannen, läuteten zugleich das Telefon und die Türglocke. Stefan nahm den Hörer ab, während Helen zur Eingangstür ging. Er sprach mit Guido, Helen und Dolly traten ins Zimmer. Dolores lief auf ihn zu, nahm ihm den Hörer vom Ohr, warf ihn auf die Gabel, packte Stefan bei den Haaren und küsste ihn. Er spürte, wie sich ihre Zunge in seinem Mund breitmachte. Er riss seinen Kopf zurück, machte zwei Schritte rückwärts. Helen stand in der Tür des Zimmers und schaute mit weit aufgerissenen Augen auf Dollys Rücken. Die drehte sich zu Helen um, zog die Mundwinkel nach unten.
»Das ist also deine neue Flamme? Bist du Helen?« Die schwieg.
»Ich gehe jetzt«, sagte Helen nach einer Weile, schlenderte zum Klavier, nahm die Noten an sich, klaubte ihre Handtasche vom Sofa, zögerte, lief auf Stefan zu, küsste ihn auf die Wange, nickte
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