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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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in der Buchhandlung und traf seine Frau, die ihm mit aufgerissenen Augen entgegensah. Er nickte ihr beruhigend zu, schloss die Tür hinter sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Rosa atmete tief aus, lächelte danach und wies mit ihrer Linken auf einen Sessel, der neben ihrem kleinen Schreibtisch stand. Fraul schüttelte freundlich den Kopf, nahm das Päckchen entgegen, das Rosa aus einer Schublade herausgenommen hatte, beugte sich erneut vor, küsste sie auf die Stirn und wollte den Raum verlassen. Rosa hielt ihn am Ärmel fest.
    »Kommst du gleich nachher heim? Ich hab mir nachmittags freigenommen, bin um zwei beim Zahnarzt.«
    Fraul sah sie erstaunt an. »Ich komme wie immer. So gegen
fünf.« Sie nahm das zur Kenntnis, und er ging. Mit den Händen in den Manteltaschen schritt er aus, während erste Regentropfen niedergingen. Zugleich hob der Wind an, sodass Fraul zeitweise seinen Hut an der Krempe festhielt. Am Schwarzenbergplatz wartete er auf den Einundsiebziger. In seinem rechten Augenwinkel erschien plötzlich eine Gestalt, die heftig zu gestikulieren schien. Fraul sah sich um und gewahrte einen älteren Herrn, der andächtig Quadrate in verschiedenen Größen in die Luft zeichnete. Nach jedem vollendeten Viereck schien er einen Schritt zurückzutreten, um sich das Gebilde genau anzusehen. Zufrieden trat er wieder vor und begann das nächste Quadrat anzufertigen. Wie Fraul beobachteten auch andere Passanten den Mann. Fraul stieg schließlich in den Einundsiebziger, schob sich bis zur Mitte des Waggons und schaute zurück. Der Mensch hatte seine Tätigkeit aufgegeben und sah in den Straßenbahnwagen hinein, bis dieser davonfuhr. Fraul setzte sich, lehnte seine Schläfe an das Fenster und schloss die Augen. Quadrateln zählen, dachte er, und das Schattengitter im Bunker von Auschwitz kam ihm vor Augen. Jedes Quadratl eine Sekunde Überleben. Das Stöhnen von Joseph in der Nebenzelle. Quadratl, Krawattl, Quadratl, Krawattl. Bevor Fraul einzunicken drohte, riss er sich den Kopf nach oben, denn er wollte nicht im Einundsiebziger in einen Alb geraten. Er presste unauffällig seinen linken Zeigefinger auf die Stelle zwischen Oberlippe und Nase.
    Am einundzwanzigsten November neunzehnfünfundachtzig mittags betrat er das Zimmer seiner Mutter. Er beugte sich vor und strich ihr über den Kopf.
     
    Franziska hatte gesehen, wie die Schnalle der Tür sich bewegte, sie machte die Augen zu und konnte so ihren Sohn erwarten. Wie ein fernes Gemurmel im Speisesaal war ihr
die Kunde von ihrem Geburtstag ans Ohr gedrungen. Der Direktor des Heimes hatte sich nach dem Frühstück mit einem Blumenstrauß eingestellt. Rund um den Direktor hatten sich einige Schwestern gruppiert und applaudierten der kurzen und in fröhlichem Ton vorgetragenen Ansprache. Die an den Tischen verteilten Heimbewohner blickten in die Richtung, aus der die Worte zu ihnen kamen, und klatschten hernach ohne großes Interesse. Als Franziska ihrem Sohn davon berichtete, sagte Edmund: »Das ist fein, Mama.« Während er sich ihr gegenüber niederließ, dachte er, ob es wohl besonders angenehm für die Leute hier sei, Geburtstag zu feiern. Es kam ihm vor, seine Mutter betrachtete ihren Vierundneunziger als Anzählung, wonach alles darauf wartete, ob sich die Angezählte wohl noch von diesem Schlag werde erholen können.
    »Vierundneunzig, Mama«, sagte er und grätschte seinen Mund, »das ist doch auch eine Leistung, die du geschafft hast, obwohl es doch nicht immer so ausgesehen hat, dass wir überhaupt ein gewisses Alter erreichen.«
    »Na ja«, sagte Franziska und legte ihre Hände um seine Hand. Sie begannen zu schweigen. Edmund hörte der Stille zu. Ihm war es, als ob die Zeit stetig vom kleinen Zimmer nach draußen sickerte.
    »Als der Kaiser, der Falott, zu Grabe getragen wurde«, sagte Franziska plötzlich mit klarer und fester Stimme, »war ich fünfundzwanzig und habe freibekommen.« Edmund lächelte.
    »Tempi passati«, sagte sie leise und tätschelte seine Hand.
    »Das ist wahr, Mama«, sagte er, stand auf und verabschiedete sich. Als er soeben das Pensionistenheim verlassen wollte, fiel ihm die Halskette ein, die er noch bei sich trug. Er ging also zurück, betrat ihr Zimmer. Sie war im Lehnstuhl eingeschlafen, war mit geöffnetem Mund zusammenge
sunken. Er betrachtete ihr kleiner und kleiner werdendes Antlitz, schlich an ihr vorüber und legte das Geschenk in eine Lade neben ihrem Bett. Als er das Zimmer wiederum verlassen hatte, tat

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