Der Kalte
sich mit kontrolliertem Gang durchzuschlängeln, warf endlich dem Ober sein Tablett mit der Schulter herunter. Als das Zeug zu Boden und zum Teil zu Bruch ging, drehte sich Fraul um, tat seine Hände auf die Oberschenkel, ging ein wenig in die Knie und lachte den Ober aus, der auf die Bescherung auf dem Fußboden starrte. Ein zweiter Ober eilte herbei und begann den Fraul wegzudrängen, redete auf ihn ein. »Ruf ein Taxi«, rief er zur Bar hinauf. Beide Ober stellten sich neben Fraul, um ihn zum Ausgang zu eskortieren. Karl betrachtete erst den einen, dann den anderen, zuckte mit den Achseln und strebte plötzlich und sicheren Schritts dem Ausgang zu. Es war viertel fünf Uhr nachmittags, dunkel und nebelig, als er selbst ein Taxi aufhielt, den ihm nachgefolgten Kellnern das Arschlecken hieß und davon fuhr.
»Bring mich nach Haus«, sagte er schläfrig geworden zum Fahrer.
»Und wohin?«
»Nach Haus, sind Sie taub, bist du derrisch«, und er drückte seine Ohrlappen mit je zwei Fingern nach vorn und zeigte sie dem Chauffeur.
»Adresse?«
»Margaretenstraße. Ich sag dir, wann du dort bist.«
Der Fahrer sah mit gerunzelten Augenbrauen auf den Betrunkenen im Fond seines Wagens, dann schaltete er die Uhr ein und fuhr los. Bis zur Margaretenstraße war Fraul eingenickt. Der Fahrer weckte ihn und fragte ihn nach der Hausnummer. Fraul zahlte mit einem Hunderter, schmiss, ohne das Restgeld entgegengenommen zu haben, die Taxitür zu und marschierte mit steifen Knien ins Haus. Vor der Wohnungstür ging er zu Boden. Nach einigen Minuten wurde er wieder munter, da fiel ihm ein, dass er um siebzehn Uhr zu einem Kulturstammtisch ins Café Hawelka geladen war. Er riss sich den Ärmel hoch, um auf die Uhr zu schauen, die sich durch diese heftige Bewegung von seinem Handgelenk löste und ihm in den Schoß fiel. Er drehte sie, um endlich die Zeit zu erkennen. »Halba fünfe«, murmelte er. »Ach scheiß drauf.« Er sperrte seine Wohnungstür auf, schmiss sie hinter sich zu, zog sich grad noch den Mantel aus und fiel in sein Bett.
25.
Die Nervosität von Rosa Fraul endete im Wartezimmer ihrer Zahnärztin. Als sie die Buchhandlung Sillinger verließ, legte sich bereits nach den ersten Schritten ein Angstmantel um ihre Schultern. Sie ging rasch und versuchte an
gar nichts zu denken. Ihr Blick blieb auf den Boden gerichtet, zwei Meter vor ihr, die Verbindung von dem, was sie sah, und ihrem Auge, handhabte sie wie ein Seil, das sie an Spalten und Gräben, welche sie spürte und fürchtete, vorüberlotste. Im Wartezimmer nahm sie Platz, es war ein halbes Dutzend Patienten vor ihr. Sie nahm ihr Buch heraus und begann unverzüglich zu lesen, und schon nach den ersten Zeilen, an denen ihr Blick entlanglief, begann sie sich leicht zu fühlen. Ihr Atem ging ruhig, es war ihr, als stieg ihr von ihrer Brust ein Lächeln in die Augen und begleitete Satz um Satz des Romans, aus dem sie las. Als sie an die zwanzig Seiten der Liebenden von Avignon hinter sich gebracht hatte, wurde sie aufgerufen. Die Ordinationshilfe rief ihren Namen dreimal, eine Patientin, die neben ihr nervös in einer Illustrierten blätterte, stupste Rosa sogar leicht an der Schulter an. Rosa fuhr zusammen, bedankte sich und ging mit dem Buch in der Hand ins Behandlungszimmer. Die Zahnärztin nahm ihr das Buch lächelnd aus der Hand, begrüßte sie sehr herzlich und ließ sie im Sessel Platz nehmen. Rosa streckte ihr, kaum dass sie saß, den geöffneten Mund entgegen, hielt hiebei ihre Augen offen. Nach einigen Prozeduren durfte sie spülen, stand auf, ging sofort zum Buch, das die Ärztin auf einer Stellage abgelegt hatte, packte es in ihre Tasche, verabschiedete sich und ging. Auf der Straße angekommen, benötigte sie das Blickseil nicht, sie strebte entschlossen ihrer Wohnung zu.
Es war drei Uhr nachmittags, und langsam leitete ein aufgekommener Nebel die Abenddämmerung ein. Nachdem sich Rosa Kaffee gemacht hatte und ein bisschen an diesen und jenen Gegenständen im Wohn- und im Schlafzimmer gezupft hatte, saß sie nun im Stuhl neben dem Fenster, las Elsa Triolets Roman weiter, sah von Zeit zu Zeit dem Nebel zu, der draußen den Tag mehr und mehr zusammendu
cken ließ. Am Höhepunkt des Dämmers aber gesellte sich ihr eine leichte Müdigkeit bei, sie legte das Buch auf den Blumentisch und schloss die Augen. Da stupste sie wer an der Schulter, und ein perlendes und klingelndes Lachen erklang.
»Nicht einschlafen, Rosl«, sagte Gusti Blum.
»Wie bist du
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