Der Kalte
kleiner Soldat gewesen. Die Sozialdemokraten fischen überall nach Dreck.«
»Na, na«, machte Fraul. »Du bist dir sicher?«
»Sicher, Edmund, sicher kann man nie sein. Das weißt du so gut wie ich.« Lebensart stieß einen Seufzer aus, der sich auf dem Weg zum Ohr des Fraul noch verstärkte.
Der Bundeskanzler stand beim Fenster, öffnete es und sah auf die Wienerstadt. Die summte in der gewohnten Art, die Dächer der Stadt schirmten die sich gleichenden Privatheiten der Bewohner ab, zusätzlich ließ der Schneefall das Gesumms gedämpft erscheinen, eine merkwürdige Stimmung schlug dem horchenden Kanzler entgegen, eine zusammengepresste Fröhlichkeit, eine von den Dächern gut abgesperrte Heiterkeit, sodass bloß rudimentäre Lebensäußerungen wie Martinshorn, Gehupe oder das Gegluckse von Trinkenden, Liebenden, Einsamen die Stimmung ornamentierte. Nichts ging in die Höh, kein Aufschrei, keine Empörung über die Lüge des Präsidentschaftskandidaten drang dem Lauschenden ans Ohr. Er schloss das Fenster und schaute mit traurigen Augen Johannes Tschonkovits an.
»Die Wirkung des Artikels, den du da lanciert hast, ist nicht beträchtlich.«
»Wart ab«, sagte Tschonkovits. »Dieser Artikel soll ein Lockmittel sein, ein Anspornfutter, ein Geschmacksverstärker, eine Losung für Witternde.«
»Drück dich bitte deutlich aus. Ich bin schon müde.«
»Wir müssen bloß warten, bis irgendwelche Historiker was finden. Die sitzen ab morgen in den Archiven. Der Wais wird sich auch erklären müssen, daraus folgen weitere Nachforschungen. Dass er was verschwiegen hat, wird sich noch rächen. Also Geduld.«
»Na schön«, meinte der Bundeskanzler säuerlich.
Für Apolloner waren die matten Reaktionen keine Überraschung. Er war schon lange der Auffassung, dass die politische Moral dieses Landes in Bezug auf die Nazivergangenheit im Keller ist, versteckt wie die Leichen dort. Er verschwendete also keine weiteren Gedanken daran,
sondern nahm die Interviews mit Überlebenden wiederum auf, um endlich sein Buchprojekt voranzutreiben. Judith erzählte ihm, dass sie über Weihnachten und Neujahr nach Venedig fahren möchte, sie war schon länger nicht dort gewesen, sehne sich danach, vor Bellinibildern zu stehen und so gute Nudeln zu essen, wie bei ihm neulich. Roman überschlug bei sich die Vorhaben der nächsten Woche, um sich bei ihr zu erkundigen, ob sie nicht mit ihm in die Bruchbudenstadt reisen möchte. Ihr blieb der Atem weg.
»Du willst mit mir nach Venedig?«
»Eventuell. Den Bellini schau dir aber allein an. Bei den Nudeln bin ich dabei.« Sie lachten.
Es muss ihm was an mir liegen, dachte sich Judith, denn über die Weihnachtsfeiertage nach Venedig fährt doch der Apolloner nicht mit einer jeden. Das wärmte sie gehörig, vergnügt traf sie sich noch rasch mit Rüdiger Scherfele, damit der sie auf dem Laufenden hielt, was immer in der Burg demnächst ausgebrütet würde.
Der Unfall und der Ausfall von Felix Dauendin veranlassten die zahlreichen Gegner des Direktors Schönn, aufs Neue über das Chaos im Burgtheater herzuziehen, welches das ehrwürdige Haus nachhaltig zu beschädigen drohte. Sie wiesen auf die zahlreichen einheimischen Schauspieler hin, die Schönn entweder entlassen hatte oder mit hoher Gage spazieren gehen ließ und die um ein Vielfaches besser wären als der Piefke Dauendin. Innerhalb des Hauses hatte er diese Spaziergänger täglich gegen sich, das Theater war seit Monaten gespalten, und diese Spaltung breitete sich unaufhaltsam in der ganzen Stadt aus. Aber Dietger Schönn genoss diesen Riss, den er kreiert hatte, und ständig arbeitete er an der Vergrößerung dieses Risses. Theater muss ver
ändern und empören, sonst ist es ein Scheißhaus. Mit dieser Auffassung brachte er einen Großteil der Wiener und nahezu alle restlichen Österreicher gegen sich auf. Das freute ihn sehr. Kurzerhand setzte er ein Stück von Raimund Muthesius auf den Spielplan, warf Termine über den Haufen, versprach, nach Dreikönig eine Pressekonferenz abzuhalten, um die Spielplanänderungen bekanntzugeben. Der Volksschauspieler Moritz Vesely, ein Gegner Schönns von der ersten Stunde an, schimpfte in drei Zeitungen gleichzeitig, dass nun das Haus endgültig an die Wand gefahren werde, aber bitte ohne ihn. Gleichzeitig erschien er bei Scherfele mit einem Einpersonenstück des Tiroler Schriftstellers Obertschatscher in der Hand und verlangte, dass dieses Werk demnächst – also gleich – mit ihm
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