Der Kalte
selbst in der ihm auf den Leib geschriebenen Rolle uraufgeführt werde. Der Großkritiker Habersatter, der die Burg bisher wohlwollend begleitet hatte, berichtete, Schönn würde sich über Weihnachten nach Unterach zu Raimund Muthesius begeben und dort mit dem Übertreibungskünstler eine neuerliche Österreichbeschmutzung ausbrüten. Der Anwalt der kleinen Leute Moldaschl schrieb in seiner täglichen Kolumne, er hätte nun genug von der zweiten Annexion Österreichs durch die Deutschen. Er wiederholte diesen seinen Überdruss bis Weihnachten mehrmals, sodass Schönn, wenn er diese kleinformatige Zeitung gelesen hatte, lachend von einer Kampagne gegen sich sprach. Mehrfach wurde er von Freunden gewarnt, sich nicht mit dieser Zeitung anzulegen. »Bin ich ein Politiker, dass ich mich vor dem Arsch Moldaschl fürchte?« Und über Weihnachten fuhr er nach Unterach, informierte bloß die Gartner. Die hatte nun als Einstand in Deutschland hübsch was zu berichten.
Rosa Fraul lag im Rudolfspital, erholte sich schnell vom Infarkt, empfing abwechselnd Mann und Sohn, lächelte sie an und schwieg. Kurz vor der Entlassung erlitt sie einen neuerlichen, wenn auch leichteren Infarkt, sodass sie weitere zwei Wochen im Spital verblieb. Die ganze Zeit fühlte sie sich leicht. Die Ameisen in ihrem Kopf waren verschwunden, sie lag da, wie unter Glas, und beobachtete neugierig, wie die Tage kamen und gingen. Sie schlief traumlos, wachte mit einem Lächeln auf und freute sich auf das Essen, freute sich auf die Besuche. Aber sie sprach nicht. Die Gegenwart war so unvermittelt in ihr Leben eingebrochen, dass es sie überwältigte. Sie nahm alles auf, was um sie vorging. Sie schien glücklich.
36.
Jedes Mal wenn Edmund Fraul nun morgens erwachte, war sein Mund ausgetrocknet, als hätte er die ganze Nacht nicht einen Atemzug durch die Nase getätigt. Er schaute immer in die andere Betthälfte, in der seit über zwei Wochen keiner war. Er hatte Rosas Polster vorm Einschlafen stets zerwühlt und die Tuchent hin und her geworfen, gelegentlich halb überm Bettrand zu Boden gelassen, damit er in der Früh nicht zuschauen musste, dass niemand da gewesen war. Nachdem er mit dem trockenen Maul und den undeutlichen Zuckungen von Resttraum auf der Netzhaut aufgestanden und ins Badezimmer geschlurft war, um mit Wasser den Mund in Ordnung zu bringen, stand er vorm Spiegel, betrachtete sein Antlitz und ging zurück ins Schlafzimmer, um das Bett zu bauen. Wie damals die Pritschen in den Lagern, war es sehr schnell fertig, mit scharfen Kanten und ohne eine Falte. Auch Rosas Bettseite wurde täg
lich frisch gemacht, damit er sie am Abend vor dem Einschlafen wiederum zerwühlen konnte. Den trockenen Mund hatte er erst bekommen, seit Rosa im Spital gelandet war. Er fühlte, dass es mit ihrem Fortsein zusammenhängen musste. Er machte sich Kaffee, schaute aus dem Fenster, schmierte sich ein Margarinebrot und riss das Kalenderblatt ab. Es war Donnerstag, der siebente Dezember, er hatte das Haus verlassen und stand in der Hollandstraße und wusste mit einem Mal nicht, was zu tun sei. Es war zu früh, um nach Kaiserebersdorf zu fahren, es war sogar zu früh, um Rosa im Spital zu besuchen, denn er würde bloß in die Visite geraten oder am Gang herumstehen. Es war nicht seine Zeit, um nach dem Frühstück in ein Gasthaus zu gehen, denn da ist er noch nie in ein Gasthaus gegangen. Schließlich entschloss er sich, das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands aufzusuchen, um dort einige Akten einzusehen. Welche, wusste er noch nicht. Als er vorm Eingang stand, kam ihm der Gedanke, er ginge ins Archiv wie andere ins Kaffeehaus, und es ward ihm unbehaglich. Dennoch stieg er hinauf und überlegte dort, was er heute machen wollte. Er holte seinen Taschenkalender hervor, sah, dass er abends einen Vortrag in der Volkshochschule Brigittenau zu halten hatte. Er schüttelte den Kopf, steckte den Kalender ein, verließ das DÖW und schritt Richtung Buchhandlung Sillinger. Beim Café Korb blieb er stehen, wartete den Moment ab, in welchem die Verwunderung darüber abklang, dass Rosa nicht im Geschäft sein konnte, dann ging er ins Korb hinein und setzte sich an einen Fensterplatz. Aus den Augenwinkeln erfasste er auf der gegenüberliegenden Seite des Lokals die Schriftstellerin Paula Williams, die mit einer anderen Schriftstellerin, deren Namen er momentan nicht wusste, Kaffee trank. Er bestellte sich eine Melange. Als er den ersten Schluck getan
hatte,
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