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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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fiel ihm ein: Paula Grünhut. Von ihr wusste er, dass sie als Jüdin in der Nazizeit all die Jahre in verschiedenen Wohnungen mit ihrer Mutter sich verstecken musste. Die beiden Frauen sahen ihn und nickten ihm zu, er grüßte.
    Edmund Fraul dachte an Apolloner, der ihn hier interviewt hatte und an dessen Artikel im Signal über die geschönte Biographie des Präsidentschaftskandidaten. Balkan, dachte er. Globocnik, Lerch dachte er. Ernst Lerch, dessen Verfahren sie in Klagenfurt eingestellt hatten und der dort jahrelang sein Café führte. Eine meiner Niederlagen, dachte er. Er sah auf die Uhr. Da es noch immer zu früh war für alles, was zu tun war heute, beschloss er, zum Krematorium zu fahren und das Urnengrab von Robert Heller aufzusuchen. Danach fuhr er zu seiner Mutter.
    Franziska schien ihn nicht ganz wahrzunehmen, als er ihr gegenüber Platz nahm. Er begann wie immer mit seinen Fragen nach ihrer Gesundheit, dem Essen und richtete sich hernach in diesem Schweigen ein, welches nach kurzer Zeit wie stets sich herstellte und ausbreitete. Plötzlich sah Franziska ihren Sohn an.
    »Wie gehts der Rosl«, fragte sie.
    »Gut«, antwortete er überrascht. »Den Umständen entsprechend. Sie hat einen Herzinfarkt gehabt.«
    »Das weiß ich doch, Edmund. Küsse sie von mir.« Edmund nickte. Franziska schloss die Augen. Fraul nahm ihre Hand. »Es wird schon werden«, sagte er.
    »Na ja«, sagte sie leise und begann einzuschlafen.
    Vor dem Altersheim stand er, überlegte, ob er zu Rosa oder bereits ins Hörndl oder zum Praterer fahren sollte. Eigentlich wäre er heute dran gewesen, denn er wechselte sich mit Karl ab, der gestern bei seiner Mutter war. Er zuckte die Achseln und fuhr zum Praterer. Er war allerdings auf
der Erdberger Seite bis zur Haidingergasse gewandert und setzte mit der Überfuhr zur Friedensgasse über. Der Fährmann war halbwegs nüchtern und lächelte Fraul an. Der gab ihm zehn Schilling, tippte sich auf den Hut und verließ das Boot.
    »Donge, Herr Fraul«, sagte ihm der kleine Robert in den Rücken. Im Wirtshaus saß Wilhelm Rosinger und schaute ihm entgegen. Fraul setzte sich an dessen Tisch.
    Nachdem er Rosinger ins Gesicht geschaut hatte, stand er auf und zog seinen Mantel aus, hängte ihn mit dem Hut an einen Haken des Kleiderständers. Eigenartig, dachte Rosinger, wieso setzt er sich zuerst her, dann legt er ab. Will er den Platz vorwärmen?
    »Grüß Sie, Rosinger«, sagte Fraul.
    »Grüße Sie, Herr Fraul«, sagte Rosinger. »Wieder hier?«
    »Wieso?«
    »Letzten Donnerstag waren Sie weder da noch beim Hörndl drüben.« Fraul sah sich nach Vickerl um, der hinter der Schank Gläser wusch.
    »Vickerl«, rief Rosinger statt Fraul, und dieser bestellte sich sein Bier und die Karte.
    »Haben Sie schon gespeist?« Rosinger nickte und sagte ihm, was er gegessen hatte.
    »Das Gleiche«, sagte Fraul zum Wirt und gab ihm die Karte zurück.
    Wilhelm Rosinger schien sich zu freuen.
    »Wie gehts Ihnen?«
    »Wie immer«, sagte Fraul gleichmütig und schwieg. Auf das hinauf sagte Rosinger nichts. Als das Essen kam, sah er zu, wie Fraul es langsam zu sich nahm. Der bemerkte das zwar, es schien ihn aber nicht zu irritieren.
    »Meine Frau liegt im Spital. Herzinfarkt«, sagte plötzlich Fraul und sah dabei aus dem Fenster.
    »Das tut mir leid.«
    »Danke.« Rosinger schwieg, denn er wusste nicht, was er jetzt sagen sollte.
     
    Die letzten Wochen sind dem Wilhelm lang geworden. Ihm ging die Hedi wieder so ab. Jetzt war sie neununddreißig Jahre tot, aber in seinen Träumen kam sie immer öfter. Wenn ich hernach wach liege, dachte Rosinger, erinnere ich mich an die beiden Nachkriegsjahre mit ihr in der Apotheke. Wie ich hinten gesessen bin und ihr zugeschaut hab, wenn sie die hungrigen und abgehärmten Kunden bedient hat, ihnen die Salben gemischt und gute Worte zu ihnen gesprochen hat. Viele Stunden hab ich sie immer wieder von hinten angeschaut und ich war glücklich, sie zu haben, mit ihr zu sein, auch wenn ich über meine Tätigkeit in Auschwitz nicht gesprochen hab, sie hat mich aber auch nichts gefragt. Nächtens hat sie mich oft in die Arme genommen und mich gewiegt, wenn ich nach kurzem Schlaf klamm und bang aufgewacht bin. Aber weil es dem Herrgott nicht gepasst hat, dass ich wieder froh werde trotz all dem, was ich im Lager angestellt gehabt hab, hat er mir die Hedi fortgenommen. Sechs Monate nach dem ersten Kopfschmerz war sie tot. Gott sei Dank hat sie es nicht erlebt, wie ihre Eltern und ihr

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