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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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aufmerksam und sehr langsam durch, begann hernach auf sie einzureden. Ich sah, dass Rosa ihr genau zuhörte und am Ende der Sätze jeweils unmerklich nickte. Das tat sie auch auf die wiederholte Frage der Oberärztin, wie sie sich denn fühle, ob sie alles hätte. Sie verneinte, als Inge sie wegen Schmerzen befragte, und verblieb in einer friedvollen Stille, ließ über sich ergehen, was immer man wegen ihr veranlasste. Beim Hinausgehen sah ich, dass Rosa mir nachschaute, als ob ich ihr bekannt sei und vergessen hätte, ihr etwas zu sagen oder so. Draußen stand Karl, grinste mich an und neigte den Kopf. Ich ging grußlos an ihm vorbei. Dabei war es mir, als würde ich, da ich an seinem Körper vorüberging, in seine Geruchswolke eingewoben, mir stieg das Blut in den Kopf und meine Haut prickelte. Ich musste mich beschleunigen, um aus dieser Aura herauszufinden, und wäre um ein Haar gestürzt, die Papiere fielen mir aus der Hand. Ich drehte mich um und sah, während ich zurückwich, dass Inge Haller und Karl Fraul sich gleichzeitig bückten, um die Zettel aufzuheben.
    »Lassen Sie nur«, fuhr Inge den Karl an, stand auf, kam mir nach und drückte mir das Zeug in die Hände. Mit gesenk
tem Kopf ging ich weiter und hatte das Gefühl, an den Aufzügen in der Mitte vorbeizugehen, in die andere Seite des Ganges einzutauchen, weiter und weiter bis ans Ende zu schreiten, schließlich an der Mauer eine Tür zu finden und aufzutun, hinter der ich ganz und gar verschwinden konnte. Ich blieb stehen, ging ins Schwesternzimmer, legte das Zettelwerk ab und stand da. Schwester Beate sah hoch. Ich trat zum Fenster und blickte auf den Park hinunter und auf die Häuser der Juchgasse. Schließlich drehte ich mich um und setzte meine Arbeit fort, denn sowohl das Geprickel als auch die Erinnerung an den Geruch von Karl waren verschwunden, verschluckt. Ich bemerkte erleichtert, dass ich gar nichts spürte.
    An den freien Tagen, die nach Wochenend- und Nachtdienst folgten, suchte ich mich zu beschäftigen, indem ich dicke Bücher aus der Städtischen Bücherei holte und mich in sie versenkte. Ich begann mit Doktor Faustus und setzte mit Krieg und Frieden fort. Bei Thomas Mann kam ich allerdings, wie alle Welt, beim Tod des Kindes ins Heulen, der Tolstoi verhalf mir bei den Schlachtbeschreibungen zu einem passablen Schlaf, nachdem ich die ersten Nächte nach der Trennung schlaflos geblieben war.
    Seit einer Woche ruft mich Stefan täglich an, als hätte Mutter ihm das aufgetragen. Gestern überredete er mich, mit ihm ins Kino zu gehen, ein Western mit Franco Nero. Nachher erzählte er mir, dass er irre verliebt sei in eine Jüdin.
    »Wieso Jüdin, woher weißt du?«
    »Sie trägt einen Magen David.«
    »Einen was?«
    »Magen David.«
    »Und warum erzählst du mir das?«
    »Nur so. Du wirst auch wieder wen finden.«
    Großartig, mein kleiner Bruder als Trostspender, weit ists mit mir gekommen. Nachdem ich mit dem Nachsommer fertig war, hatte ich plötzlich die Leserei satt. Ich saß daheim, legte den Telefonhörer neben die Gabel und versank in Musik. Das tat mir nicht gut, vor allem Tschaikowski und Chopin brachten mich in trostlose Stimmungen. Außerdem erschien Mutter jedes Mal wenn ich mich abgestöpselt hatte, um nachzusehen.
    So geht das nicht weiter, dachte ich, als ich mich wieder zum Dienst fertig machte. Ich beschloss, mich Karls Mutter bekannt zu machen.
    Ich wartete meinen Dienstschluss ab und ging gewissermaßen in meinen Zivilkleidern zu Rosa Fraul. Ich hatte überlegt, Inge einzuweihen oder gar mit ihr die Gründe zu besprechen, warum ich den Kontakt zu Karls Mutter aufnehmen wollte, doch womöglich hätte sie mir abgeraten oder es sogar zu verbieten versucht. Ich war mir selbst nicht im klaren, es zog mich zu Rosa Fraul hin, ich wollte herausbekommen, wer das ist, die ich nicht zu meiner Familie zählen durfte. Ich verließ das Spital, um nach einigen Minuten wie eine Besucherin wiederzukommen, fuhr zum dreizehnten Stock und hoffte, ungesehen in Rosas Zimmer zu gelangen. Als ich oben aus dem Aufzug trat, stand Guido Messerschmidt vor mir. Sein Gesicht verfärbte sich sogleich zart, als er mich sah. Ich grüßte und wollte an ihm vorbei.
    »Sie haben Dienst?«, fragte er mit leiser Stimme, sah sich dabei um.
    »Woher wissen Sie, dass ich keinen Dienst habe? Haben Sie nachgesehen?«
    »Ja, Frau Doktor Keyntz, das hab ich.« Es war lächerlich, ihn zu fragen, warum er das tat. Ich fragte ihn also, weshalb er mir nachspionierte.

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