Der Kalte
Rosa hatte die Haller bemerkt und hin gegrüßt, hernach nahmen sie das Taxi vor der Tür. Edmund schob Rosa und sich selbst auf die Rücksitze, und sie fuhren in die Hollandstraße.
Obwohl heute Montag und nicht Donnerstag war, hoffte Wilhelm Rosinger, dass Edmund Fraul um die Mittagszeit beim Praterer erscheinen würde. Er saß auf seinem Platz, aß Geselchtes mit Sauerkraut. In der Nacht auf diesen Montag hatte er das letzte Mal bei der Firma Schille seine Run
den gedreht. Am Freitag davor hatte die Firma, die Küchengeräte herstellte, den letzten Arbeitstag gehabt. Danach war die Belegschaft entlassen worden, die Firma schloss, und Rosinger ging im Auftrag seiner Horch- und Guckgesellschaft nochmals das Gelände ab, steckte ein letztes Mal den Schlüssel in die Stechuhren der verschiedenen Abteilungen. Ab Dreikönig wird er in einer anderen Firma seine Rundgänge absolvieren. In der Früh hatte er sich daheim kurz hingelegt und im neuesten Allan-Wilton-Heft gelesen.
Der kleine Robert stand an der Theke und plauderte angeregt mit Vickerl, er setzte eben sein erstes heutiges Glas an die Lippen, als von der Eingangstür ein Mann ihn rief. Robert trank das Vierterl in einem Zug aus und ging zu seiner Überfuhr, um die Kundschaft zur Haidingergasse überzusetzen. Rosingers Blick blieb Richtung Eingang haften, er sah gewissermaßen allen Davongehenden in den Rücken und allen Eintretenden ins Gesicht. Es war auch ein Kommen und Gehen im Praterer, aber Fraul kam nicht. Schließlich ging Rosinger heim, setzte sich an sein Fenster, legte den Allan Wilton vor sich hin, las und schaute in die Geologengasse hinauf und hinunter, also nach links und nach rechts, was sich dort tat. Auch in diesem Allan Wilton hatte der Londoner Sergeant Vanstone seine Lieblingsspeise zu sich genommen: Kakao mit Hering. So verging der Nachmittag, Rosinger versank wie so oft in einer etwas nebeligen Gegend zwischen Jetzt und den leer verlaufenen letzten Jahren. Vom Café Zartl kam ein alter Mann, er ging leicht hinkend die Gasse hinauf, Rosinger sah auf dessen Glatze und dachte nach, wann der Alte zu hinken begonnen hatte. Der drehte den Kopf hinauf zu Rosinger und rief mit Handtrichter am Mund: »Seit meinem Schlagl, du Trottel.« Er bog hinkend in die Hörnesgasse ein wie immer, und die Gasse war still wie zumeist, wenn Rosinger
seinen Beobachtungsplatz einnahm. Noch einige Seiten, dann hat Wilton den Mörder, und der Scharfrichter verbindet ihm mit einem schwarzen Tuch die Augen. Das hätten sie mit mir auch machen sollen, dachte Rosinger. Der Alte kam wieder zurück, schaute zu Rosinger hoch. Rosinger rief hinunter: »Was vergessen, Herr Moser?«
»Ja«, rief Moser zurück. »Es wird immer ärger, Herr Rosinger.«
»Eh«, antwortete der, »bei mir auch. Bei mir auch. Grüß Sie.«
»Grüß Sie.« Und der Alte überquerte unten die Straße. Nach zwei Minuten kam er wieder. »Weg ist es«, schrie er hinauf.
»Was war es denn?«, fragte Rosinger hinunter. Moser schüttelte den Kopf und ging davon.
Rosinger nahm das Allan-Wilton-Heft, legte es auf den Küchentisch, ging aufs Klo. Beim Drücken sah er Sterne, er begann zu schwitzen. Er gab auf, nahm seinen Platz beim Fenster wieder ein. Unvermittelt begann es zu schneien.
Judith kam mit dem Gepäck zu Apolloner, übernachtete bei ihm, und um fünf in der Früh am dreiundzwanzigsten Dezember gings auf die Siebzehner nach Venedig. Sie fuhren mit Judiths Peugeot dahin, sie hatten sich verabredet, abwechselnd zu chauffieren, und Judith hatte begonnen. Roman verspreizte sich alsogleich im Beifahrersitz, um noch zu dösen. Judith fand das zwar nicht freundlich, denn sie selber konnte kaum aus den Augen schauen, aber nun fuhr sie halt durch Wiener Neustadt, die Neunkirchner Allee entlang und hatte den schnorchelnden Apolloner im rechten Augenwinkel. Am Semmering weckte sie ihn auf, weil sie im Erzherzog Johann frühstücken wollte. Anschließend fuhr er, verschaltete sich einige Mal, fuhr für Judith
einmal zu rechts, dann zu sehr in der Mitte. Es verging kein Fahrkilometer, den sie nicht beiläufig kommentierte, und wenn sie ihre Aufmerksamkeit von Romans Fahrpraktiken abzog, wandte sie sich der Landschaft zu. Roman versuchte bereits nach Langenwang ihren Redefluss zu unterbrechen, indem er sie um Ruhe bat, doch Judith konnte einfach nicht still neben ihm durch die Steiermark reisen.
Da habe ich mir was eingetreten, dachte Apolloner. Wieso nervt sie so? Der maulfaule Südtiroler,
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