Der Kalte
Spiel der kleinen Adele sowohl unterbrechen als auch bewundern. Adele warf das Diabolo weit in die Höhe, bückte sich, schob die Staberln mit der Schnur durch ihre Beine und fing hinter ihrem Popsch die Spule wieder auf, die während des Fluges ihre Farbe von Rot auf Blau gewechselt hatte. Franziska, jung und mit einer Straßenbahneruniform angetan, eine rote Nelke an der Bluse, kicherte immerzu, fuhr dem schreienden Edmund durch die Haare und riss ihn ständig von der fliegenden Spule zurück, die er endlich fangen wollte, um Adele dazu zu zwingen, die Herausgabe des Diabolos zu erbetteln. Fraul betrachtete den Telefonhörer, nahm ihn, hörte sich an, was in gedrängtem, aber ruhigem Ton gesagt wurde. Er gab den Hörer Rosa zurück, stieg aus dem Bett und ging an der ihn fragend anschauenden Rosa vorbei ins Bad.
»Mutter hat eine Gehirnblutung«, sagte er zu Rosa, als er aus dem Bad kam. »Bitte ruf mir ein Taxi.«
»Soll ich mitkommen?«
»Wozu.«
Fraul zog sich an, umarmte seine Frau kurz und ging in der Hollandstraße zum wartenden Taxi. Der nächtliche Frühlingswind massierte sein Gesicht, und er bemerkte, dass er seinen Hut vergessen hatte. Auf der Fahrt zum Wilhelminenspital trat der Traum ihm nochmals vor Augen, er musste lächeln.
Als er das Zimmer betrat, hörte er das heftige Atmen seiner Mutter. Eine Krankenschwester nestelte am Infusionsständer herum, begrüßte ihn, als hätte sie schon gewusst, dass es sich bei Edmund um den Sohn der Sterbenden handelte. Nachdem er eine Weile neben der Mutter gesessen war und der Keucherei zugehört hatte, stand er auf, ging auf den Gang und sah sich um. Als eine Schwester ihn bemerkte, ging er auf sie zu und verlangte nach einem Arzt. Die Schwester nickte, und wenig später war die Ärztin da und erklärte ihm, dass die Patientin einen Gehirnschlag erlitten habe, tief bewusstlos sei und es in den nächsten Stunden wohl zu Ende gehe. Fraul drehte sich um und kehrte zu seiner Mutter zurück.
»Mama«, sagte er zu ihr, »es ist nun alles in Ordnung. Du kannst gehen. Es ist alles geregelt. Du brauchst dich nicht quälen. Quäl dich doch nicht so. Hör auf, dich zu quälen.« Er streckte seinen Arm aus und begann das winzige Gesicht der Franziska zu streicheln. Man kann ja nie wissen, ob sie es nicht noch mitkriegt, dachte er. Es könnte sie beruhigen. Das brachte ihn auf den Gedanken, sich ihr vorzustellen. »Ich bin dein Sohn, Mama«, sagte er, beugte sich vor, um nahe an ihrem rechten Ohr zu sein. »Ich bin Edmund, ich bin der Edi, Mama, der Edi bin ich. Weißt du noch?«
Die Frau im Bett neben dem von Franziska war aus ihrem Schlaf aufgewacht und schaute mit einem Gesicht, das sich bemühte, seine Züge zusammenzuhalten, auf Edmund. Er verstummte und streichelte weiter Antlitz und Schulter seiner Mutter, die immer weitere Wege zu gehen schien, um ihren Atem von dort zu holen und mit großer Anstrengung aus sich herauszudrücken.
Warum stirbt sie nicht, dachte sich Fraul. Menschen sterben ständig auf einszweidrei. Werde ich dereinst auch so zäh sein und mich sinnlos um Atem bemühen? Er bemerkte, dass er ungehalten gegenüber Franziska wurde, er zog seinen Arm zurück, erhob sich und ging auf den Gang hinaus. Wie lange wird sie mich jetzt hier herumstehen lassen, fragte er sich. Soll ich der Rosa doch sagen, sie möge herkommen? Den Karl brauch ich erst zu benachrichtigen, wenn sie tot ist, denn dem war sie eh wurscht, tot oder lebendig. Schließlich ging er zur Ärztin und fragte sie, ob seine Mutter trotz der Bewusstlosigkeit Schmerzen habe. Das sei nicht nötig, sie habe ein schweres kämpferisches Leben hinter sich und brauche wahrlich sich jetzt nicht noch mit Schmerzen herumzuärgern. Sie habe ihren Mann im KZ verloren, und auch ihr Sohn sei jahrelang in Auschwitz gewesen. Sie habe Kummer und Bitternis für drei Leben gehabt und könne jetzt in den letzten Stunden keine Schmerzen gebrauchen. Die Ärztin hörte der Tirade mit halb offenem Mund zu, drehte sich um und kam mit einer Injektion wieder. Sie gingen an Franziskas Bett, und die Ärztin gab ihr die Spritze. Nach wenigen Minuten wurde Franziskas Atem ruhiger, doch immer wieder begann sich ihr Gesicht zu verkrampfen. Die Schwester kam hinzu, beschloss, ihr Wasser einzuflößen, auf das hinauf schien Franziska mit dem Gesicht ausweichen zu wollen, ein nahezu unmerkliches Lächeln ließ ihre Züge aufschimmern.
»Ist sie tot?«, fragte Edmund die Schwester. Die Ärztin, die hinzugekommen war,
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