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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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Schlossstraße, die er stadteinwärts fuhr, vorkam, als sei sie nur für ihn da.
    9.
    Franziska Fraul saß beim Mittagessen, wurde bedächtig und zielstrebig von Schwester Roswitha gefüttert und dachte dabei, wie überflüssig ihr diese Fütterung vorkam. Wozu das jeden Tag, statt zu sterben und dieses ganze Zeug hinter sich zu lassen, dachte sie. Immer stößt diese Person mir mit dem Löffel in die Mundwinkel. Reden tut sie mit mir wie mit einer Idiotin. Wozu sitze ich da herum. Und Edmund muss immer kommen und langweilt sich. Pfiatdigott möchte ich sagen.
     
    Danach ließ man sie noch längere Zeit beim Tisch sitzen. Sie konnte sich selbst nicht mehr erheben, um auf die Toilette zu gehen. Sie winkte erst der Schwester Roswitha zu, die aber mit einer weiteren Fütterung befasst war, hernach der Schwester Charlotte, die freundlich zurückwinkte und weitereilte. Sie wollte aufs Klo und ins Bett und endlich schlafen, zurückwandern in die Träume und nach dem Erwachen still liegen bleiben und weiter träumen, mit Hugo reden, der vor zweiundvierzig Jahren von den Nazis getötet wurde, ihre einzige Liebe, welcher Edmund entsprossen war, eine weitere einzige Liebe, solange Edmund ein Kind gewesen und bevor er nach Spanien gegangen und aus Auschwitz zurückgekehrt war.
    Bis zu ihrer Pension hatte Franziska bei der Straßenbahn gearbeitet. Erst als Schaffnerin, dann am Fahrkartenschalter Schwarzenbergplatz, schließlich im Büro. Sie blieb Sozialdemokratin bis heute, lief im Bezirk, in Simmering, für die Partei ihr Leben lang. Edmund war als Kommunist zurückgekommen, hatte sich aber nach den Ungarnereignissen wiederum den Sozialdemokraten genähert. Miteinander politisiert haben Mutter und Sohn aber nie. Sie pflegte
einen Freundinnenkreis im Bezirk, spielte regelmäßig Karten, meistens Königrufen. Sie hatte in der kleinen Wohnung eine Katze, dann noch eine, und zuletzt einen Kater, der an der Staupe zugrunde gegangen war. Als es so weit war, ging sie ganz gern ins Pensionistenheim. Bald musste sie in den Rollstuhl, und darin verbrachte sie die letzten fünfzehn Jahre. Lesen konnte sie längst nicht mehr, aber lange Zeit benützte sie noch Hörkassetten, bis ihr auch die Kopfhörer lästig wurden. Solange sie in ihrem kleinen Zimmerchen war, in dem sie auch noch wenige Schritte allein machen konnte, indem sie sich tastend zum Fenster oder ins Bad bewegte, hörte sie die Romane vom Kassettenrekorder, bis die Schwestern kamen und ihn leise drehten, sodass sie nichts mehr verstehen konnte. Schließlich gab sie das auf und begann mit einer der verstorbenen Freundinnen zu sprechen, täglich mit einer anderen, und dann wieder von vorn, lautlos, aber ausführlich, sodass sich derart die Zeit überbrücken ließ. Sie wartete außerdem auf ihren Sohn, freute sich, wenn er kam, obwohl nichts geschah, wenn er da war. Gelegentlich begleitete ihn Rosa, mit der Franziska noch nie etwas anfangen hatte können. Eine überkandidelte Jüdin, die vom Lager noch verrückter gemacht worden war. Den Enkel Karl hatte sie schon Jahre nicht gesehen, und da sie sich von ihm vergessen fühlte, vergaß auch sie ihn.
    Nun kamen die Winde, die sie herauslassen musste, sodass Roswitha schließlich auf sie aufmerksam wurde und mit ihr zum Klo ging.
    »Jetztn ins Bett«, sagte Franziska zur Schwester. »Bald, Frau Fraul«, beschied sie die und lief fort, sodass Franziska weiterhin neben dem Esstisch auf dem Sessel sitzen bleiben musste. Sie schloss die Augen, und bald öffnete sich der Mund, und sie begann still zu schnarchen. Hugo war hier.
Hier in der Lorystraße, sie lag neben ihm, er sah sie mit den großen plüschig-braunen Augen an, die sie so mochte. Sie verlor sich in diesem Blick. Als sie beide nahe beieinander waren und sich betrachteten, fuhr auf einmal ein blutroter Blitz aus Hugos Augen. Sie sah noch, wie sein Mund sich öffnete.
     
    Edmund Fraul saß neben dem Bett seiner heftig atmenden Mutter und betrachtete ihr Gesicht. Er war auf den Anruf aus dem Pensionistenheim sofort ins Wilhelminenspital gefahren. Es war drei Uhr nachts gewesen, Rosa hatte ihm den Hörer hingehalten. Er war aus einem lustigen Traum gerissen worden, der aus seiner Kindheit hereingekrochen war in seinen Schlaf und seine damalige Freundin beim Diabolospiel zeigte, das er stets zu stören wünschte, woran er aber von seiner kichernden Mutter gehindert wurde. Es muss irgendwo auf einer Simmeringer Gstätten gewesen sein. Auch andere Kinder wollten das zirkusreife

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