Der Kalte
er bleibt eine Mischung aus Zorn, Empörung, Fassungslosigkeit und Ohnmacht. Aber er ist mit hitzig-giftiger Feder geschrieben, er wahrt keine Distanz, er quillt über vor Moral. Es ist zum Kotzen. Warum hat Klingler ihn dennoch angenommen? Als der Kellner Jenö sich endlich anbequemte, an der hinteren Bar zu erscheinen, verlangte ich eine Münze, ging zur Telefonzelle und rief in der Redaktion an. Klingler war nicht zu sprechen. Ich bat seine Sekretärin, mich dennoch vorzulassen, sie lehnte ab, ich wollte zu ihr sagen, was ich doch nicht sagte, ich hängte ein, schnauzte den meinen Weg kreuzenden Kellner an, dass er mir endlich mein Viertel Rot herschaffen solle. Jenö
grinste und nickte, bevor er in der Küche verschwand. Ich boxte Karl Fraul in den Rücken, stellte mich wiederum neben ihn. Er hob den Blick von seinem Bierglas und schaute mich an. Dann wandte er sich ab, nahm das Glas und stürzte das Bier hinunter, als würde er das Krügel gleich mit verschlucken wollen.
»Hörst du, Karl«, vernahm ich plötzlich meine erhobene Stimme, »was stehst du da wie ein Piksiebener um sechs am Abend. Was ist denn los?«
»Halt die Goschn, Apolloner, lass mich in Ruh, geh weiter.«
»Noch immer in der Keyntzerei, du bist verrückt.«
»Du hast niemand auf dem Gewissen. Halt endlich die Goschn.«
»Du hast auch keine auf dem Gewissen, du Trottel. Die Margit Keyntz war eine erwachsene, selbstbestimmte –«
Er schlug mir seine Faust auf die Nase, ich spürte einen Stich, der mir womöglich den Schädel zu spalten drohte, und fiel auf meine rechte Seite, erhielt vom Ellenbogen einen elektrischen Schlag, presste die Luft mehrmals heftig aus den Lungen und erhob mich. Karl stierte mich an, sein Blick folgte sodann dem Blut, das mir aus der Nase zu rinnen begann. Von hinten griff mir Jenö auf die Schultern, hielt mir eine Stoffserviette hin. Zwei Gäste schauten erstaunt zu uns herüber, standen auf und kamen her. Jenö blickte von mir zu Fraul und wieder zurück, als wollte er abschätzen, ob es nun zu einer Rauferei käme. Der Schmerz im Kopf ließ nach, stattdessen begann mir die Nase derart wehzutun, dass mir die Tränen kamen. Irgendwie wollte ich dem Arschloch erklären, dass ein ehemaliger SA -Mann im Begriff ist, österreichischer Bundespräsident zu werden, dass ich das so beschissen fand, weil in diesem Land wohl bereits alles möglich ist. Anstatt dagegen zu kämpfen und
zu zeigen, in welcher Zeit wir zu leben wünschten, blasen alle Trübsal, tun nichts, tun nichts. Während sich solcherlei in meinem Mund vorbereiten wollte und sich auf der Zunge bereits versammelt hatte, begann mir vom Magen her schlecht zu werden. Ich wandte zwar noch den Kopf, aber Speise und Trank schossen im Bogen aus meinem Mund, trafen Fraul und sein Krügel. Sofort stellte sich der Kellner zwischen uns. Ich hörte mich sagen: »Entschuldigung. Entschuldige, Fraul.«
»Scheiße«, sagte er. »Tut mir leid.«
»Ja, ja, entschuldige.«
»Ist mir ausgekommen. Weiß auch nicht –«
Zum Schmerz in der Nase gesellte sich nun ein Schmerz in der Schulter. Einer der Gäste stellte mir einen Sessel hin, ich musste mich setzen und wollte mein schmerzendes, mein blödsinniges Gesicht mit meinen Händen verbergen, kein Licht und keine Leute sehen, ich wollte mich ummanteln mit einer undurchdringbaren Lasur, ich wollte nicht mehr da sein. Während die Leute irgendwas zu mir sagten, während sie nicht aufhörten, auf mich einzureden, stand mir der Friedhof in Sterzing vor Augen, über welchem sich ein dunkelblauer Himmel spannte, eingezwängt vom Gebirg, und aus diesem Himmel stürzten Schwalben herunter und jagten knapp über den Gräbern die Mücken.
»Kann ich dir helfen?«
»Nein, Karl«, sagte ich. Ich stand auf und ging zur Toilette. Er folgte mir, und wir putzten beide an unserer Kleidung herum. Langsam ließ der Schmerz nach, und ich fühlte mich besser, sodass ich beschloss heimzugehen. Vor der Bar nahm ich die Hand von Karl, der mir wie ein Hund aus der Toilette gefolgt war, er lächelte finster und sagte: »Das zahle alles ich.« Ich nickte und ging. Vor dem Pick up merkte ich, dass ich meinen Mantel im Lokal gelassen
hatte. Ich holte ihn und schlug den Weg zu Judiths Behausung ein. Ihr Wohnungsschlüssel lag allerdings in meiner Schreibtischlade in der Redaktion, und sie selbst war vermutlich auch noch dort, oder sie lauerte auf irgendwen in der Burgtheaterkantine. Ich ging heim zu mir, streifte die Kleider ab, duschte und
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