Der Kalte
nickte, ohne Franziska berührt zu haben.
10.
… Johann Wais lügt, Johann Wais täuscht, Johann Wais betrügt. Wie kann das sein, dass der Präsidentschaftskandidat der Österreichischen Volkspartei sich vor die Wähler hinstellt, indem er auf sie drauftritt. Wie kann es sein, dass Wais vor seine Wähler tritt und sich als weltoffen darstellt, während bloß herauskommt, dass er verschlagen ist und nun angeschlagen. Er, der im Lazarett lag nach seiner Verwundung im Osten neunzehnzweiundvierzig und weiterstudierte, sich verliebte, und auf einmal ist der Krieg zu Ende gewesen – der war in Wahrheit am Balkan als Verbindungsoffizier, ein Leutnant, der Bescheid wusste, wie am Balkan die deutsche Wehrmacht wütete.
Nicht nur dies: Er, der ein Gegner des Nationalsozialismus war, wie seine Eltern auch, hatte allerdings eine Wehrstammkarte, aus der hervorgeht, dass er Mitglied der SA war. Bravo, Doktor Wais, da machen Sie uns was weis, da sind Sie wahrlich der Kandidat, dem die Welt vertraut.
Oder Sie sind eine Schande für Österreich geworden. Ziehen Sie sich zurück. Verziehen Sie sich. Treten Sie ab …, dachte es in Roman Apolloner, bevor er Papier in seine Schreibmaschine einspannte und loszulegen begann. Fertig geworden, las er den Artikel durch. Ein pathetischer Schwachsinn ist das, dachte er. Ich bin zu wütend. Er stand auf, ging hinüber zu Judith, legte ihr den Artikel vor.
»Ich kann grad nicht«, sagte sie, schaute auf, sah sein versperrtes Gesicht, nahm das Blatt und begann zu lesen. Apolloner beobachtete sie, indes sie ruhig dasaß und las, er sah
ihr auf die Haare und auf den Hals, sah die schimmernde Stelle hinterm Kinn, wollte sie in den Nacken fassen und den Kopf näher zum Artikel drücken, wollte, dass sie endlich fertig wäre, doch sie begann auf der Stelle von vorn, nachdem sie am Ende angekommen war. Er drehte sich weg und ging auf den Gang, stand dort herum, wollte sich eine Zigarette anzünden, doch die lagen auf seinem Schreibtisch, er hatte bloß das Feuerzeug dabei, er ging pischen, wusch sich Hände und Gesicht, kam zurück, nahm Judith den Artikel aus der Hand und zerriss ihn. Judith lachte auf, zuckte die Achseln und wandte sich ihrer Schreibmaschine zu. Apolloner nickte, ohne dass sie das wahrnahm, ging zu seinem Platz, spannte ein und begann aufs Neue mit großer Geschwindigkeit zu schreiben.
Eine halbe Stunde später stand Judith neben ihm. »Ich muss jetzt zum Theater«, sagte sie. »Holst du mich ab?« Apolloner schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. Judith beugte sich hinunter und drückte ihre Lippen auf seine Stirn und ging. Roman unterbrach sein Geklapper, stand auf, lief hinter ihr her, wollte ihr am Gang nachschreien, dass er doch zum Theater käme, überlegte es sich, holte die Blätter vom Schreibtisch und das letzte aus der Schreibmaschine, setzte sich auf die Schreibtischkante, las das Geschriebene durch, unterbrach sich nach zwei Seiten, stapelte den Artikel zusammen und eilte zu seinem Chef. Klingler hielt ihm die Hand hin. »Geben Sie her, geben Sie her.« Er las, schnaufte dabei, lächelte.
»Nanu, aus?« Klingler drehte das letzte Blatt um, sah unter seinen Schreibtisch. »Da fehlt doch was. Kürzen Sie in der Mitte bissl und kommen Sie zum Ende.«
Er gab ihm den Artikel zurück, erhob sich und ging zum Fenster. »Und mildern Sie das Ganze etwas. Der Zorn ist ein mäßiger Autor.«
»Schreiben Sie es zu Ende«, sagte Apolloner und wollte ihm den Artikel auf den Schreibtisch legen.
»Seien Sie nicht kindisch«, sagte Klingler und drehte sich zu ihm. »Glauben Sie, mir schmeckt das? Lassen Sie die Wortspiele draußen und schreiben Sie noch etwas über die österreichische Krankheit. Das haben Sie schön angedeutet, aber eben nur angedeutet. Kommen Sie, Roman, kühler Kopf zum heißen Herzen. Kühler Kopf.« Klingler schaute auf seine Armbanduhr. »Bis um fünf.«
Um halb sechs lieferte Apolloner den Artikel ab, fuhr ins Pick Up und stellte sich neben Karl Fraul an die Bar.
Ich weiß selbst nicht, warum ich in eine derartige Dauerwut hineingeraten bin. Ich ging im Pick Up zum an der ersten Bar lehnenden Karl Fraul, stellte mich neben ihn, klopfte ihm auf den Oberarm und strebte weiter zur zweiten Bar, an welcher niemand stand. Fraul hatte mir ein heiseres »Servus, Roman« hingesagt. Nun drehte ich mich um und schaute zu Fraul zurück, der mit dem Rücken zu mir ein neues Bier orderte.
Mein Artikel ist mir nicht gelungen, auch wenn er erscheinen wird,
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