Der Kalte
oder er würde vor ihnen fliehen.
Mit ähnlicher Geschwindigkeit gingen ihm auch die Gedanken durch den Schädel, die sich alle um das mögliche Unrecht drehten, das er dem unschuldigen Apolloner angetan hatte. Wäre das nötig gewesen, dachte Edmund, ihn so aufzublättern und seine Motive derart in Zweifel zu ziehen? Dass ich mich nicht freuen kann, wenn die neue Generation
entschlossen gegen den Ungeist ankämpfen will. Ich mag nicht glauben, ich darf nicht glauben, dass es denen ernst ist. Als wir jung waren, waren prächtige Burschen unterwegs, bei den Naturfreunden, in den Sportvereinen, bei den Gewerkschaften. Wir waren allesamt begeisterungsfähig, das waren wir. »Mit uns zieht die neue Zeit.« Die neue Zeit ist kommen, mitgezogen sind die Prachtkerle mit ihr nach Stalingrad, nach Kreta. Statt Freundschaft haben sie Heil mein Führer geschrien. Was ich allein in Dachau an SS -lern aus Simmering getroffen hab, dachte Fraul, die sich zu mir zugegebenermaßen ganz brav verhalten haben, weil sie mich für einen der Ihren – bloß auf der falschen Seite – gehalten haben, und als einen Arier. Fraul schnaubte und beschleunigte sich weiter. Zu den Russen und zu den Juden waren sie grad so grauslich wie die einst illegalen österreichischen Nazis, und oft schlimmer insgesamt als die Deutschen. Warum sollen die Heutigen, die doch weicher, unentschiedener und indolenter sind, als wir waren, nicht genauso auf neue Führer hereinfallen, wenn die Zeit wieder einmal reif werden wird? Fraul querte auf die Praterseite des Donaukanals und stapfte dahin. Seine Gedanken setzten ihm zu. Er blieb stehen. In einer jähen Bewegung riss er sich den Hut vom Kopf und schleuderte ihn in den Fluss. Im nächsten Augenblick bereute er es, aber der Hut war nun mal im Donaukanal, und Fraul ging neben ihm her, bis sich der Hut genügend angesaugt hatte und unterging. Als Fraul nach vorne blickte – denn der Hut war bereits versunken –, bemerkte er einen Menschenauflauf vor der Überfuhr. Er trat hinzu, und die Leute wichen ihm aus, bildeten unwillkürlich eine Gasse. Er schritt durch sie hindurch und sah auf der Böschung den Fährmann liegen. Seine Arme waren vom Körper weg nach vorne und oben gerichtet und versteift. Fraul schaute zum Vickerl und stupste ihn an.
»Tja«, sagte der, »den kleinen Robert hats erwischt. Ersoffen neben seiner Überfuhr. Grad vorhin haben sie ihn rausgezogen. Seine Füß haben sich verheddert gehabt, sodass er nicht abgetrieben worden ist.«
Fraul ging zum kleinen Robert vor. Von hinten kamen in diesem Moment zwei Sanitäter mit einer Tragbahre und ein Arzt, und Fraul gewahrte auf der Schüttelstraße das Blaulicht, sah dann wieder dem Fährmann ins Gesicht. Der kleine Robert machte einen schlafenden Eindruck, weiter nichts.
»Besoffen ersoffen, der kleine Trottel«, sagte Vickerl und tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn.
»Den Vogel müssen Sie ihm aber nicht zeigen«, sagte Rosinger leise zum Wirt. Vickerl zuckte die Achseln und begann durch die Zähne zu pfeifen. Die Sanitäter packten den kleinen Robert auf die Tragbahre. Die Knie waren angezogen und auch steif, sodass er wie ein Sitzender aussah, der nach hinten gekippt war. Sie trugen ihn an Fraul, Vickerl und Rosinger vorüber und an den anderen Menschen, die still dastanden. Vor dem Rettungsauto setzten sie die Bahre ab, hoben den Toten herunter und lagerten den Versteiften in Seitenlage an den Straßenrand. Zwei Polizisten waren dazugekommen und legten eine rote Decke auf den Fährmann. Das Rettungsauto fuhr davon.
»Haben Sie auf mich gewartet?«, fragte an der Böschung Edmund Fraul den Rosinger. Der nickte.
»Gehen wir rein«, sagte Fraul. Die Leute verliefen sich, Fraul und Rosinger verfügten sich ins Wirtshaus. Vickerl folgte ihnen.
»Ich hab ihn nicht hier herinnen lassen können«, murmelte er und ging hinter die Theke. »Er war total im Öl. Dass er ins Wasser fällt, hätt ich mir aber nicht gedacht.«
»Ist schon recht«, sagte Fraul. »Zwei Menü.«
Vickerl schaute auf die Uhr, nickte und pfiff nochmals durch die Zähne. »War ein armer Hund, der Robert. Mein Wirtshaus ist keine Hundehütte. Was hätt ich denn tun sollen? Zwei Menü, Gitti.«
Fraul setzte sich mit Rosinger zum Fenstertisch, das war der Tisch, an dem Rosinger bei ihrer ersten Begegnung gesessen war.
»Eine Schachpartie?«, fragte Rosinger.
»Keine Lust«, brummte Fraul. »Wozu?«
16.
Die beiden ersten Vorproben verliefen nicht berauschend,
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