Der Kammerjäger
urbanen Legenden, die J ungs endlos wiederholen und die nie ihre Fähigkeit verlieren zu entsetzen. Wie jene von der Frau mit der toupierten Hochfrisur, die ihre Frisur ständig mit Haarspray behandelte, anstatt sie zu waschen. Erst als die Frau eines Tages ohne erkennbaren Grund tot umfiel und der Gerichtsmediziner einen Blick in ihre Haare warf, entdeckte man ein Spinnennest der Spezies Schwarze Witwe.
Bob entsann sich auch der Ohrwurmlegende - dabei ging es wahrscheinlich um den Gemeinen Ohrwurm (Forficula auricularia), da er an der Ostküste verbreiteter war als Euborellia annulipes: Spät eines Abends kroch ein Ohrwurm-Weibchen in das Ohr eines bedauernswerten Mannes, während er schlief. Mit seinen dämonisch gebogenen pinzettenartigen Afterraifen arbeitete es sich durch das bittere orangerote Ohrenschmalz, knabberte sich um das Trommelfell herum, vorbei am Ohrlabyrinth und der Schnecke und schließlich ins Gehirn, wo es seine dreißig Eier ablegte. Auf dem Weg nach draußen blieb es in dem Morast von Ohrenschmalz stecken und starb.
Am nächsten Tag ging der Mann zu einem Arzt - vermutlich ein Hals-, Nasen- und Ohrenspezialist - und klagte über Schmerzen im Ohr. Der Arzt spähte hinein, entdeckte das Insekt und entfernte es. Er verschrieb dem Patienten etwas gegen Ohrenschmalzbildung und verkündete, daß alles bestens sei.
Doch vierzehn Tage später, als der Mann gerade schlief, schlüpften die dreißig Nachkommen aus und begannen sich durch den Hypothalamus des Mannes zu fressen, wodurch er erwachte, vor Entsetzen und Qualen aufschrie und schließlich nur noch sterben konnte, während Blut und Gehirnmasse aus seinen Ohren sickerten.
Natürlich war nichts Wahres an dieser Legende. Es gab keinerlei Hinweise in der Literatur, daß Ohrwürmer sich in das menschliche Gehirn graben, um dort ihre Eier abzulegen, aber es ergab eine gute Geschichte.
Bobs wissenschaftliches Interesse für Insekten begann in der achten Klasse, als er gerade in der Bibliothek war, wo er eigentlich eine Zusammenfassung von Jack Londons Ruf der Wildnis verfassen sollte, weil er frech zu seiner Englischlehrerin gewesen war. Aber anstatt Londons primitivistische Hundeparabel zu lesen, blätterte Bob Die Insekten Nordamerikas durch und sah sich Bilder von Wespen an. Dort fiel sein Blick auf die sogenannte Tarantel-Jagdwespe (Pepsis mildei).
Sofort stellte sich Bob eine riesige Spinne vor, von der Größe einer Hafenratte und mit einer Flügelspanne von zwei Metern, über und über mit räudigem Fell und Gefieder bedeckt. Zu seiner Enttäuschung erfuhr er, daß die Tarantel-Jagdwespe nicht größer als drei Zentimeter wurde. Trotzdem zeigte die Abbildung ein wildes blauschwarzes Ungeheuer mit roten Flügeln und Antennen und einem langen gebogenen Stachel. Außerdem beschrieb das Buch in blutrünstigen Einzelheiten, wie die weibliche Tarantel-Jagdwespe sich langsam einer viel größeren Spinne näherte. Diese verhielt sich wie hypnotisiert, selbst als das bösartige Insekt seinen Stachel tief in die verzauberte Beute versenkte und sie mit Gift vollspritzte. Dann wurde die riesige gelähmte Spinne in ein Nest geschleppt und bekam dort ein Ei implantiert. Nun diente sie als Nahrung für die sich entwickelnde Wespenlarve und wurde von innen nach außen verspeist.
Mann, dachte der junge Bob, das ist besser als die OhrwurmStory! Nie hätte er sich träumen lassen, daß Insekten so aufregend sein könnten.
An diesem Tag blieb Bob lange in der Bibliothek und stellte einen faszinierenden, wenn auch teilweise frei erfundenen Bericht über die Tarantel-Jagdwespe von Nordmexiko fertig. Er bekam ein A + und soviel Lob von seiner Lehrerin, daß eine lebenslange Leidenschaft für jegliches Insektenleben geweckt wurde.
Diese Hingabe führte schließlich zu einem Abschluß in Entomologie, und eine Zeitlang spielte Bob mit dem Gedanken, seinen Doktor zu machen und College-Professor oder Forscher zu werden, der der Rolle der Insekten als Vektoren viraler, bakterieller und protozoaler Krankheiten nachspürt. Aber irgendwo unterwegs ließ die Begeisterung dafür nach.
Dann, eines Tages, nachdem er William Burroughs' Naked Lunch gelesen (wenn auch nicht ganz verstanden) hatte, kam Bob diese Idee.
Die Idee führte zu seinem Traum, und der Traum führte zu seinem Wanzsaal, wo er jetzt auf seinem heruntergekommenen Drehstuhl herumrutschte und eine Schale Lucky Charms kaute, während er etwas auf dem Tisch vor sich betrachtete. Bob war bequem gekleidet,
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