Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
keine Angst, fühlte sich sogar auf sonderbare Weise mit allem verbunden, so als würde der Nebel alles beinhalten, als ginge darin nichts und niemand mehr verloren.
Plötzlich fiel ein Sonnenstrahl durch die wallenden Schwaden und brachte etwas zum Funkeln. Dann stand er vor ihr: ein roter Drache, sein Haupt versehen mit unzähligen Hörnern. Sein Körper, groß und mächtig, höher aufragend als Jorims Baumhaus, erhob sich nun unmittelbar vor ihr. Dennoch erschien ihr dieser Drache zarter und filigraner als die anderen, die sie am Himmel gesehen hatte. Die dicken Schuppen des Drachen, feucht vom Nebel, glitzerten wie Rubine. Langsam senkte er den Kopf, und so uralt dieses zerklüftete Drachengesicht auch anmutete, so jung wirkten die Augen, die Enna nun musterten. Wieder züngelten gelbe Flämmchen in den länglichen Pupillen empor, und auch dieses Mal verspürte Enna dasselbe Kribbeln in den Fingerspitzen. Sie konnte sogar ihr Spiegelbild im Auge des Drachen erkennen, und in diesem Augenblick wusste sie, dass es ein Drachenweibchen war. Schon einmal war Enna ihr begegnet, in einem Traum – vor nicht allzu langer Zeit.
Mit einem unbezwingbaren Willen zur Freiheit erhebt sich der Drache in die Lüfte, ertönte die Stimme. Sie war so klar, als würde reinstes Metall aufeinanderschlagen. Doch muss er vorher lange ruhen, denn nur so findet er Kraft. Im Drachenkrater, wo Kristalle die Dunkelheit verdrängen und das Herz der Erde schlägt, liegt verborgen, was zerbrechlich ist und doch das Gleichgewicht der Welt wahrt.
Der Nebel wurde dichter und nahm Enna zunehmend die Sicht auf den Drachen. Das kräftige Rot seiner Schuppen schien in weite Ferne zu rücken, wurde heller und heller. Bald war es nur noch ein zartes Rosa, bis es schließlich ganz verschwand.
Jemand rüttelte Enna sanft an der Schulter, und sie öffnete die Augen. Mit einem Lächeln beugte sich Alvendorah über sie. »Wach auf, Enna. Es ist Zeit!«
Enna richtete sich auf und streckte sich. Gwendalons Feuer prasselte nach wie vor, offenbar hatte er mehrmals Holz geholt. Bronn und Jorim saßen daneben und rieben sich die Hände. Draußen herrschte noch immer Dunkelheit.
»Es ist noch finster«, sagte sie leise.
Die Elfe wandte sich mit besorgtem Blick dem Höhlenausgang zu. »Ja, das ist es. Dabei müsste es schon längst hell sein.«
Enna wusste nicht, ob sie über die Dunkelheit, die immerhin tote Körper und Drachenknochen verbarg, erfreut sein sollte oder nicht.
Schließlich erhob sie sich, ging zu den anderen ans Feuer und nahm dankbar etwas von Alvendorahs Zauber entgegen. Sie wagte nicht zu fragen, wie lange dieser Vorrat noch reichen würde.
»Wie sollen wir nun einen Weg in diesen Krater hineinfinden«, fragte Jorim gerade und leckte sich die mit Honig verklebten Finger.
»Wir müssen die Höhlen absuchen, aus denen gestern die Drachen gekommen sind«, schlug Bronn vor. »Ein aberwitziges Unterfangen, doch«, er blickte zu Enna herüber, »wir sollten nichts unversucht lassen.« Er stand auf und ging mit steifen Schritten zum Höhlenausgang. »Wenn nur die verdammte Dunkelheit endlich verschwinden würde.«
Enna erkannte nun eine Axt an Bronns Gürtel, die er gestern noch nicht gehabt hatte. Wie es aussah, hatte er einen flachen, scharfkantigen Stein mit einer Lederschnur an einem Stück Ast festgebunden.
»Die Dunkelheit wird unsere Sicht nicht trüben«, entgegnete Gwendalon, und Alvendorah nickte zustimmend.
»So ist es. Außerdem bleiben wir so vielleicht feindlichen Blicken verborgen.«
Also brachen sie auf, in der festen Absicht, Bronns Vorschlag zu befolgen.
Eine Dunkelheit ohne Mond und Sterne erwartete sie, als sie ins Freie traten. Die Luft war kühl, und der Wind, der ihnen entgegenblies, drang durch ihre noch immer klammen Kleider.
Sowohl Gwendalon als auch Alvendorah schauten hinauf in den Himmel auf etwas, das sich dem Blick der Halblinge entzog.
»Nichts«, sagte Alvendorah leise. »Keine Gulvaren, keine Drachen.«
»Wo sind sie hin?«, flüsterte Enna, doch niemand wusste darauf eine Antwort.
Behutsam tasteten sie sich voran, und während Enna neben Jorim und Bronn herschritt und den beiden Elfen folgte, erinnerte sie sich wieder an ihren Traum. Zwar sah sie das Drachenweibchen vor ihrem geistigen Auge, doch die Worte dieses geheimnisvollen Tieres waren ihr bereits entfallen. »Kristalle … und etwas Zerbrechliches in der Erde?«
»Was murmelst du da?«, wollte Jorim wissen. Und Enna erzählte ihm von ihrem
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