Der Kampf der Halblinge: Roman (German Edition)
Käfer weg.
»Wirklich nicht?« Ennas Stimme hatte einen herausfordernden Klang angenommen. Jorim bemühte sich indes, ernst zu bleiben, und schüttelte den Kopf. Seine Schwester ließ ihn nicht aus den Augen.
»Schwindler!«, rief sie plötzlich mit einem lauten Lachen und stürmte auch schon los – und Jorim hinterher. Nicht zum ersten Mal wunderte er sich, wie leichtfüßig Enna mit ihren pelzigen Füßen über umgestürzte Baumstämme hinwegsetzte. So manch anderes Halblingsmädchen stellte sich da bedeutend ungeschickter an. Häufig fragte er sich auch, weshalb Enna noch keinen Partner an ihrer Seite hatte. Immerhin war sie nur einen Sommer jünger als er, hatte ein ansehnliches Gesicht mit leuchtenden, grünen Augen und erfreute das Halblingsauge mit ihren hübschen großen Füßen und dem langen Zopf, der gerade jetzt, wo sie durch Eichenhain gen Norden rannten, fröhlich auf und ab hüpfte. Der alte Vern Flusstaucher hatte einst sogar gesagt, Enna sei im Abgang ebenso süß wie der Tabak aus dem fünfblättrigen Sternenreiter – was auch immer der betagte Halbling damit gemeint haben mochte.
»Beeil dich, Bruderherz, sonst ist der Rauch fort, ehe wir ihn erschnuppert haben!«, rief Enna, ohne sich umzudrehen. Jorim gab sich Mühe, sie einzuholen. Er wich einem tief hängenden Ast aus, sprang über die dicke Wurzel einer knorrigen Eiche und schlüpfte kurz darauf zwischen zwei mit Moos bewachsenen Findlingen hindurch. Ein aufgescheuchtes Eichhörnchen erklomm mit empörtem Gezeter den nächsten Baum.
Eichenhain lag in der Mitte von Westendtal auf einem Hügel übersät mit Eichen. Jorim hatte sein Baumhaus auf der höchsten Stelle gebaut, und deshalb ging es nun ständig bergab. Trotzdem war es noch ein weiter Weg nach Nordbruch, das sich in die Tannenwälder schmiegte, die unmittelbar südlich der Schroffen Berge lagen. Dort befand sich auch das Rauchorakel, und dieses war nun ihr Ziel. Jorim hatte Enna mittlerweile eingeholt und warf immer wieder einen Blick nach Norden. Tatsächlich schwelte dort der Rauch noch immer über den Bäumen. Endlich erreichten sie den nördlichen Rand von Eichenhain. Das Land war hier von vielen Senken durchzogen, in denen zahlreiche Halblingsfamilien ihre Behausungen gebaut hatten. Meist bestanden diese aus einem Erdwall, der mit einer kuppelartigen Holzkonstruktion versehen war, die das Dach bildete. Im Gegensatz zu Hügelwald, wo die Halblinge in geräumig ausgestalteten Hügeln wohnten, lebten sie in Eichenhain, Westendweiler und Flusstal vorwiegend in solch kleinen Häuschen mit runden Kuppeldächern, die häufig mit Moos und Borke bedeckt waren. Manch ein findiger Halbling, so wie Jorim, hatte ein Baumhaus als Wohnstätte gewählt oder residierte gar im Inneren einer mächtigen abgestorbenen Eiche.
In Flusstal waren die meisten Häuser direkt am Wasser errichtet. Das kleine Volk – die Halblinge waren nur etwa drei bis vier Fuß groß – baute hier vorwiegend Getreide an und zermahlte es in den Mühlen, die die Nebenflüsse des Erenin säumten.
Nordbruch war dagegen der am schwächsten besiedelte Bezirk. Dort befanden sich große Lagerräume: für die Fässer mit dem süffigen Bier aus Westendtal, für das Pfeifenkraut aus Hügelwald und den hochprozentigen Schnaps, gemacht aus allem, was sich destillieren ließ. Und dazu gehörten nicht nur allerlei wilde Beeren, sondern auch Kartoffeln und sogar Borke aus Eichenhain. Borkenschnaps war immerhin eines der beliebtesten Getränke in den fünf großen Tavernen von Westendtal.
Beinahe hätte Jorim seine Schwester in vollem Lauf umgerannt, als diese urplötzlich stehen blieb und sich schwer atmend auf den Knien abstützte.
»Was ist los, Enna?«, stieß Jorim verblüfft hervor. »Geht dir etwa die Luft aus?«
Enna schüttelte den Kopf. »Während du heute Morgen nur auf deinem Baumstamm gedöst und dem Lied der Vögel gelauscht hast, bin ich bereits in Flusstal gewesen und habe zwei Säcke Mehl auf meinen Schultern nach Hause getragen.«
Jorim zuckte nur mit den Schultern. »Und wenn schon, da hatte ich immerhin schon das dritte Frühstück verdrückt.«
Enna verdrehte die Augen, ersparte sich aber jeglichen Kommentar und eilte weiter über ausladende Wiesen, auf denen sich die ersten Blumen im Frühlingswind wiegten.
Am Ende kämpften sich beide schweißüberströmt die letzten Schritte durch den dichten Tannenwald von Nordbruch, bis dieser endlich die Sicht auf eine weite Lichtung freigab. Jorim und Enna
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