Der Kannibalenclan
stündlich darüber. In der ganzen Stadt, in allen Lokalen und Geschäften gibt es bei den Menschen nur noch einen Gesprächsstoff: das schreckliche Rätsel, wer dem Fluss die grausige Fracht übergeben hat.
Die abenteuerlichsten Gerüchte gehen um in Nowokusnezk.
Zuhälter werden verdächtigt, sich ihrer Mädchen entledigt zu haben, aus Angst vor Entdeckung. Ein Monster, ein Frauenhasser, wird in Erwägung gezogen. Als die Menschen dieser Stadt erfahren, dass sich an den Leichenteilen kaum Fleisch befand, glauben die Menschen an ein wildes Tier, das diese Opfer gerissen haben könnte. Aber man denkt auch an einen Menschenfresser. Einen Kannibalen, der in den Wäldern um die Stadt sein Unwesen treibt und aus Hunger mordet. Erst vor zwei Jahren wurde ein Mann verurteilt, der in Sibirien allein in einem Wald lebte und Frauen und Männer beim Holz-oder Pilzesammeln tötete und aß.
Die Polizei und das um Verstärkung gebetene Militär sind im Einsatz. Doch tagelange Suchaktionen in den Wäldern um Nowokusnezk bringen keinerlei Hinweise. Insgeheim ist man froh darüber. Zu schauerlich ist allein der Gedanke, eine solche Bestie aufzufinden.
Nachdem man mit den Ermittlungen nicht weiterkommt, sprechen die Menschen hinter vorgehaltener Hand aus, was viele schon von vornherein vermuteten: Da hat bestimmt die Mafia ihre Hand im Spiel. Womöglich wurden die Mädchen aus einem anderen Ort hierher gebracht, zumal offensichtlich niemand in der Stadt die Mädchen vermisst. Man glaubt, dass die mächtige Mafia Menschen in dieser Stadt »entsorgt« habe, in der Gewissheit, dass in diesem verlassenen Teil des Landes nie etwas ans Licht gebracht und auch nicht bis zu den fernen Hauptstädten vordringen würde.
Polizeistreifen werden gefordert und, um die Bevölkerung zu beruhigen, auch in großem Maße durchgeführt. Doch meist enden diese Streifen in der nächsten Kneipe. Noch nie sah man in den Lokalen der Stadt so viele Polizisten in Uniform. Als dies nicht nur den Einwohnern, sondern auch den Vorgesetzten auffällt und diese die Beamten zur Rede stellen, erklärt man, von den Kneipenbesuchern Hinweise zu erhalten.
Noch immer liegt ein dunkler Schatten über der Stadt, und dieses bedrückende Gefühl ist berechtigt. Denn noch immer sind der oder die Täter nicht gefasst. So geht weiter die Angst um in Nowokusnezk. Junge Mädchen trauen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße. Sie werden argwöhnisch gegen jeden Fremden, ja selbst gegen Freunde.
Das Fenster zur Hölle schließt sich nur langsam, und es vergeht Zeit, bis sich die Ängste der Dunkelheit auflösen und den Blick wieder freigeben auf das Licht des unbeschwerten Lebens.
So ziehen Monate ins Land, und die Bevölkerung denkt allmählich nicht mehr an die schrecklichen Funde im Fluss Abuschka. Auch für die Medien ist dieser »Fall« nicht mehr von Interesse, und so bleibt der Tod von sechzehn Mädchen ungeklärt. Natürlich treffen vereinzelt Hinweise bei der Polizei ein, doch zu neuen Erkenntnissen führen sie nicht.
Die Polizei ist froh, dass dieser Fall in Vergessenheit gerät, denn man ist keinen Schritt weitergekommen. Die örtliche Polizei hat schnell registriert, dass die Leute viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, als sich über die Funde noch Gedanken zu machen.
Mysteriöse Vorfälle im Gericht
Was niemand in dieser Zeit bemerkt, ist, dass sich zwei Mitarbeiterinnen des Gerichts stets über den neuesten Stand der Ermittlungen informieren lassen, obwohl sie gar nichts mit dem Fall zu tun haben. Selbst die Akten des Staatsanwaltes sind vor den beiden Frauen nicht sicher. Als man sie eines Abends im Büro des Staatsanwaltes mit dem Ordner erwischt, geben sie zur Antwort: »Den Ordner braucht morgen der Ermittlungsrichter, er will die Akten morgen früh auf seinem Schreibtisch haben.«
Dem Staatsanwalt kommt dies sonderbar vor, und so ruft er am nächsten Tag den Ermittlungsrichter an. Er fragt ihn: »Zwei Mitarbeiterinnen von Ihnen haben gestern Abend die Akte über die Ermittlungen von den Leichenfunden im Fluss Aba für Sie geholt, geht das in Ordnung?«
»Welche Akte?«, fragt der Richter barsch.
»Die Akte der angeschwemmten Leichenteile im Fluss Aba«, wiederholt der Staatsanwalt.
»Von wem soll sie abgeholt worden sein?«
»Na, von Ihren beiden Damen im Vorzimmer«, klärt der Staatsanwalt auf.
»Ach so, ja ja, das geht schon in Ordnung«, beruhigt der Richter den Staatsanwalt. »Ich habe zwar eine ganz andere
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