Der Kannibalenclan
Alle paar Meter passiert man wieder schwere Türen.
Alle Türen haben Gucklöcher, die es den Beamten erlauben, in das Innere der Zellen zu blicken. An einer Stelle auf der rechten Seite des Ganges ist keine normale Zellentür, sondern eine massive, etwa einen Meter hohe Eisentür. Die Tür wird geöffnet, und man sieht auf ein Eisengitter. Durch das Gitter kann man in einen Vorraum blicken, in dem sich auf der gegenüberliegenden Seite zwei weitere Zellentüren befinden.
Auf einer der Türen, sie ist rotbraun angestrichen, steht groß die Zahl 25. Es ist die Zelle von Sascha Aleksander Spesiwtsew. Man kann sofort erkennen, dass es sich hier um eine Hochsicherheitszone handelt. Die Türen sind mit mehreren Schlössern gesichert. Das Gitter wird aufgeschlossen.
Der Beamte öffnet eines der vielen schweren Schlösser an der Zellentür Spesiwtsews. Er blickt durch den Spion und gibt dem Gefangenen kurze, aber eindringliche Anweisungen: »Steh auf, Gesicht hierher, bleib da stehen, dreh dich um.«
Noch einmal vergewissert sich der Beamte, ob sein Gefangener auch in der angewiesenen Position ist, bevor er die anderen großen Schlösser öffnet. Dann ist die Tür offen, und vor dem Direktor, seinem Wachmann und dem ausländischen Besucher steht der Mann, den sie den »sibirischen Tiger«
nennen: Sascha Aleksander Spesiwtsew.
Das Ungeheuer sieht aus wie ein Häufchen Elend. Fast ist man enttäuscht. Ein Berserker, ein wildes Tier, eine blutrünstige Bestie hat der Besucher erwartet. Doch es ist nur eine menschliche Gestalt, die in Straßenschuhen ohne Schuhbänder, in einer kurzen Hose und einem dunklen Anorak in der Mitte des Raumes steht und mit gesenktem Kopf darauf wartet, was mit ihr geschieht. Offensichtlich hat er Angst, doch als er den Direktor des Lagers erkennt, wird er scheinbar ruhiger.
Dieser spricht ein paar Worte mit ihm, doch der Gefangene Sascha Aleksander Spesiwtsew wagt es anscheinend nicht, seinen Blick zu heben. Man spürt, er weiß ganz genau, dass ein falsches Wort sein Leben beenden würde. Der Befehl zu einem gemeinsamen Hofgang mit seinen Mitgefangenen wäre sein sofortiger Tod.
Dies ist nicht nur in Sibirien so. In allen Gefängnissen der Welt gelten Kindermörder als Abschaum unter den Mithäftlingen. Die Ermordung eines solchen Menschen würde jeden Insassen in der Hierarchie des Gefängnisses weit nach oben bringen. Gemeinschaft mit anderen Mitgefangenen gibt es für Menschen wie Sascha nicht, denn er würde die Gegenwart von Mitgefangenen nur für Minuten überleben. In Russland wie in der ganzen Welt stehen sie an der untersten Stufe der Gefängnishierarchie, die, die Kinder schänden und töten. Jeder Häftling, der einen solchen Menschen umbringt, könnte sich sicher sein, von keinem der Mitgefangenen verraten zu werden.
Was sollten sie hier im Straflager auch zu verlieren haben, ihre Strafen überleben sie meist ohnehin nicht. Ein Mord an Sascha hingegen würde mehr Kaffee, mehr Zigaretten, mehr Annehmlichkeiten bedeuten – und das allein zählt.
Die Sicherheitszelle, in der der Häftling Spesiwtsew noch immer mit gesenktem Haupt steht, ist der Traum derer, die einer solchen Kreatur die Hölle auf Erden wünschen. Für denjenigen, der hier inhaftiert ist, ist es tatsächlich die Hölle. In den Blicken des Direktors, der in seiner Anstalt die schwersten Verbrecher Russlands aufnehmen muss, glaubt man Genugtuung zu erkennen.
Man holt eine Lampe, und erst jetzt sieht man diesen Raum in seiner ganzen Enge und Düsternis. Die Zelle ist nichts anderes als ein in den Felsen gehauenes Loch von rund sechs Quadratmetern. Die Zellentür ist innen mit Eisen beschlagen und auf der gegenüberliegenden Seite – obwohl auch hier alles aus massivem Stein besteht – nochmals mit Eisengittern gesichert. Links neben der Tür befindet sich die Toilettenschüssel, daneben ist ein Holzbrett in einem knappen Meter Höhe an der Wand befestigt. Auf dem Holzbrett liegt eine dünne, alte Matratze und darauf wiederum ein knappes weißes Leintuch, eine rote Wolldecke und ein Kissen. Der Raum besitzt keine Fenster. Licht dringt nur durch zwei winzige, schmale Luftschlitze in der Decke ein. Sascha Spesiwtsew lebt in Dunkelhaft.
Direktor Romanow blickt seinen Gefangenen unbarmherzig an. Keine Gefühlsregung ist in seinem starren Gesicht zu lesen, als er sagt: »Seit einem Jahr sitzt er nun in Untersuchungshaft Doch zu bereuen habe er nichts, beteuert er immer wieder.«
Was auffällt: Obwohl das Leintuch
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